16.02.2022 - Studien
Nicht jeder Revolutionär ist auch bekannt. Außerhalb der Finanzwelt dürfte etwa John Bogle kaum jemandem geläufig sein. Was der 1929 geborene Ökonom aber gemein hat mit vielen deutlich populäreren Revolutionären: Scheitern vor dem Durchbruch. 37-jährig kündigte ihm sein damaliger Arbeitgeber Wellington Management nach einem Fehlinvestment. Ob das für Bogle erst recht Ansporn war, eine große Idee zu entwickeln, ist nicht sicher. Jedenfalls gründete er 1975 die Vanguard-Gruppe. Ein Jahr später bot er ein Produkt an, das die Finanzwelt revolutionieren sollte: Einen Indexfonds (Exchange Traded Fund/ETF) auf Aktien. Mit dem Vanguard 500 Index Fund verkaufte er Investoren erstmals ein Portfolio auf Aktien, das die Papiere nicht selektiert, sondern einen ganzen Markt abbildet – und das wegen der breiten Streuung die Unternehmenslandschaft in einem Anlegerportfolio gut widerspiegeln und ausgewogene Börsenchancen eröffnen sollte. Statt die Nadel im Heuhaufen zu suchen, nahm Bogle einfach den ganzen Heuhaufen ins Visier.
Bis das Konzept jedoch Beachtung in der Finanzwelt fand, ging Zeit ins Land. Indexfonds fristeten zunächst ein Nischendasein. 1990 startete dann der erste Exchange Traded Fund an der Börse. Doch auch 2005 verwalteten die Anbieter weltweit lediglich 417 Milliarden Dollar in 453 Produkten. Heute sind ETFs als Anlageprodukt jedoch kaum mehr wegzudenken. Ihr Aufstieg hat auch während der Pandemie angehalten. Aus Bogles Idee speist sich heute eine Multimilliarden-Industrie, mit einem verwalteten Vermögen von zuletzt mehr als zehn Billionen Dollar.
„Indexinvesting“ ist hoch skalierbar und eröffnet den Anbietern enorme „Economies of Scale“. Dies fördert die Konzentration. Zwei Drittel des verwalteten Kapitals entfallen auf nur zehn Anbieter. Pionier Vanguard ist noch vorne mit dabei, ist aber inzwischen von iShares, einer Tochter des US-Vermögensverwalters Blackrock, überflügelt worden. Zusammen mit der New Yorker State Street verwalten die Top-3 mehr als die Hälfte aller ETF-Gelder (Grafik 1).
Sogwirkung bei den Aktien-ETFs entfalten vor allem die US-Indizes. Drei der vier weltgrößten ETFs referieren auf den S&P 500 und versammeln 1,04 Billionen Dollar an verwaltetem Vermögen – rund zehn Prozent des gesamten ETF-Vermögens. Auch die Nummer drei und Nummer fünf nach Vermögen sind US-Aktienprodukte. Der Vanguard US Total Stock Market ETF verwaltet gut 292 Milliarden, der Invesco QQQ Trust Series 1, der als Referenz den Nasdaq 100 hat, gut 204 Milliarden Dollar. Mehr als jeden siebten in ETFs investierten Dollar weltweit bunkern die Anbieter in diesen nur fünf Produkten (Grafik 2).
Abseits dieser Dickschiffe stoßen Anleger inzwischen auf ein Meer an ETFs. Starke Vermarktung hat dazu geführt, dass die Anzahl an ETFs inzwischen die Marke von 11.000 Produkten – 24-Mal mehr als vor 17 Jahren – überschreitet. Allein 2021 betrug der Nettozuwachs bei der Produktanzahl 12,6 Prozent. Nicht ganz so stark wachsen die Zuflüsse – Anleger verteilen ihr Geld also auf mehr Produkte. Über die vergangenen drei Jahre flossen ETFs über allen Anlageklassen 2,55 Billionen Dollar zu, was einem Zuwachs von 33,9 Prozent oder durchschnittlich 10,2 Prozent pro Jahr entspricht (Grafik 3).
Dabei zogen Aktienprodukte mit gut 1,6 Billionen Dollar das Gros an frischen Mitteln an. Renten-ETFs verzeichneten über die drei betrachteten Jahre einen Mittelzufluss von gut 787 Milliarden Dollar. Aktien-ETFs dominieren auch den Bestand mit annähernd acht Billionen Dollar bei weitem (Grafik 4).
Mit 43,8 Billionen Dollar an verwaltetem Vermögen liegen aktive Manager zwar generell immer noch vor den ETFs, doch bevorzugen Investoren hier vor allem Geldmarkt- und Anleihefonds. Bei Aktien verzeichneten ETFs Zuflüsse, während aktiv gemanagte Aktieninvestmentfonds 2020 und 2021 saldiert rund 400 Milliarden Dollar verloren. Investoren konzentrieren also ihre Aktienanlagen zunehmend in ETFs.
Entgegen der ursprünglichen Absicht erreichen Anleger in vermeintlich breit diversifizierte Indexfonds nicht mehr die eigentlich beabsichtigte Diversifikation ihrer Investments. Vielmehr bilden die populärsten Fonds inzwischen ein auf Technologiewerte konzentriertes Portfolio ab. So beträgt der Anteil dieser Werte in S&P 500 ETFs – nachdem ihr Anteil in den vergangenen zehn Jahren um rund die Hälfte zugenommen hat – knapp 30 Prozent (Grafik 5).
Auch in dem angeblich das globale Anlageuniversum umfassenden MSCI World lag der Anteil an Technologiewerten per Ende 2021 bei annähernd 28 Prozent. Konsequenz: Die Kurskurven eines ETFs auf den MSCI World und eines ETFs auf den S&P 500 liefen über die vergangenen fünf Jahre fast parallel, wobei der US-Index den Weltindex mit einem jährlichen Zuwachs von 17,2 Prozent gegenüber 12,2 Prozent um fünf Prozentpunkte jährlich übertrumpfte (Grafik 6).
Wer noch tiefer eintaucht in die den ETFs zugrunde liegenden Indizes, der findet noch erstaunlichere Konzentrationen. So dominieren sieben Unternehmen die Indexwelt: Apple, Microsoft, Amazon, Tesla, Alphabet – Class A und Class C –, Meta und Nvidia. Im gesamten S&P 500 mit seinen zuletzt 505 Aktien machen die „glorreichen“ Sieben gut 26 Prozent des nach Marktkapitalisierung größten US-Aktienindex aus. Im vermeintlich gegenüber dem S&P 500 noch einmal breiteren US Total Stock Markt ist ihre Konzentration mit 22,2 Prozent nur unwesentlich geringer. Im Nasdaq 100 und sich darauf beziehenden ETFs lag ihr Gewicht zuletzt bei sogar fast 49 Prozent.
Aufmerksame Beobachter könnten nun kritisch anmerken, dass die genannten Top-Fünf-Schwergewichte unter allen ETF-Produkten auf US-Indizes referieren. Das stimmt. Doch ein Blick auf wesentlich breitere Indices verwässert diese Konzentration kaum. So bildet der Indexanbieter MSCI mit seinem Weltindex auf 23 Börsen der entwickelten Länder mit insgesamt 1546 Aktien 85 Prozent der Weltmarktkapitalisierung ab. Der per Ende 2021 gut 62 Billionen Dollar an Marktkapitalisierung schwere Index beinhaltet trotz seiner vermeintlichen Breite 69 Prozent an US-Aktien. Die „glorreichen“ Sieben wiederum haben auch den MSCI World längst eingenommen, mit einem Gewicht von zuletzt 17,6 Prozent. Zum Vergleich: Dies entsprach per Ende 2021 mehr als dem fünffachen Wert aller 40 Dax-Unternehmen.
Sogar in dem von MSCI World um 25 Schwellenländerbörsen und damit weiteren 1420 Aktien erweiterten MSCI ACWI liegt das Gewicht der sieben Dominatoren bei immer noch 15,6 Prozent. Die 2958 weiteren Papiere teilen sich den Rest und kommen im Durchschnitt auf nicht einmal 0,03 Prozent an Gewicht. Die Median-Gewichtung aller Aktien eines iShares ETF auf den MSCI ACWI liegt am Ende bei kümmerlichen 0,01 Prozent. Wer denkt, darunter finden sich Unternehmen aus den Nischen der Börse, der irrt: Mit einem solch geringen Gewicht gehen beispielsweise ein Dax-Konzern wie der Kosmetikhersteller Beiersdorf ein oder der russische Ölkonzern Rosneft, der in der Fortune-Global-500-Liste zuletzt auf immerhin Platz 194 zu finden war.
Obwohl sie der Idee des „passiven Investierens“ schon im Grundsatz widersprechen, bleiben auch sogenannte Smart-Beta ETFs im Aufwind. So entfiel mit gut 192 Milliarden Dollar fast jeder sechste Dollar, der 2021 neu in ETFs investiert wurde, auf die Smart-Beta-Klasse – ein Rekordzufluss (Grafik 7).
Mit gut 1,6 Billionen Dollar repräsentieren Smart-Beta-ETFs inzwischen rund 16 Prozent des gesamten ETF-Marktes (Grafik 8). Bei ETFs mit Aktienbezug liegt der Anteil sogar bei rund einem Fünftel an allen Aktien-ETFs.
Smart-Beta-ETFs konterkarieren die Ursprungsidee von Bogle: Sie selektieren nach fundamentalen Faktoren wie der Volatilität von Aktienpreisen oder Dividendenzahlungen der Unternehmen Titel aus der Grundgesamtheit eines Marktes. Das Ergebnis kann am Beispiel des 80 Milliarden Dollar Vanguard Growth ETF, des zweitgrößten ETF im Smart-Beta-Universum, besichtigt werden. Statt „nur“ 17,6 Prozent wie im MSCI World haben die glorreichen Sieben hier ein Gewicht von 45,4 Prozent im Portfolio.
Nicht immer eine Klasse für sich, sondern mal unter Smart Beta, mal unter Öko-ETFs zu finden, sind auf „nachhaltige Investitionen“ getrimmte ESG-Fonds. Auch hier steigt die Nachfrage enorm. Flossen 2018 nur knapp elf Milliarden Dollar in ESG-ETFs, waren es 2021 schon gut 156 Milliarden Dollar (Grafik 9).
Verwalter von ESG-Aktien-ETFs hielten zuletzt Vermögen über knapp 375 Milliarden Dollar – annähernd fünf Prozent an allen Aktien-ETFs (Grafik 10).
Aber auch mit dem Label Klimaschutz, gute Unternehmensführung und soziale Produktion, wird die Diversifikation des Portfolios nicht wirklich besser. Mit 23 Prozent liegt beispielsweise der Anteil der "glorreichen" Sieben im nach verwaltetem Vermögen größten ESG-ETF, dem 23,5 Milliarden Dollar schweren iShares ESG Aware MSCI USA ETF, einfach nur rund drei Prozentpunkte niedriger als in einem klassischen S&P-500-ETF oder knapp einen Prozentpunkt oberhalb des insgesamt drittgrößten ETFs (US Total Stock Market ETF). Der „nachhaltige“ ETF ist also nur eine kleine Variation auf seinen größeren Bruder, der ohne Klima- und Sozialkriterien auskommt. Und wer sich regional von den USA oder einem US-ähnlichen Weltinvestments absetzen möchte, der kauft sich wiederum in erster Linie in Technologie ein. Im 6,2 Milliarden Dollar schweren iShares ESG Aware MSCI EM ETF etwa macht allein die Aktie eines Halbleiterherstellers gut 7,9 Prozent aus. Die Top-Sechs-Positionen machen asiatische Techfirmen mit einem Gesamtgewicht von 22,1 Prozent unter sich aus.
„Sei niemals ganz drin, aber auch niemals ganz draußen aus dem Markt“ – diesen Ratschlag gab John Bogle 89-jährig in einem seiner letzten Interviews im September 2018. Jeder Anleger sollte sich gemäß seiner Wohlfühlquote in Aktien engagieren, und davon auch bei starken Kursschwankungen nicht ablassen. Seine ursprüngliche Idee mit einem Exchange Traded Fund in ein breites Universum und damit möglicherweise weniger volatil oder riskant zu investieren, lässt sich jedoch kaum noch umsetzen. Das Universum an ETFs wird von einer schier unüberschaubaren Zahl an auf besondere Themen oder Gebiete konzentrierten Produkten dominiert. Und wer zum Beispiel den „ganzen Aktienmarkt“ kaufen will, geht oft in die Irre. Denn auch in den angeblich den globalen Markt abbildenden Aktien-ETFs haben inzwischen wenige Einzeltitel ein hohes Gewicht. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens hat es die ETF-Industrie geschafft, den Kunden wieder zu „aktiver“ Anlage zu verführen. Für dieses „aktive“ Management fällt die Gebührenrechnung naturgemäß höher aus. Zweitens hat die lange anhaltende Niedrigzinspolitik der Zentralbanken die Marktkapitalisierung auf wenige, zinssensitive Technologieunternehmen hin verschoben. Wer also heute „passiv“ investiert, kauft ein paar große Nadeln in einem ziemlich kleinen Heuhaufen.
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