16.12.2022 - Kommentare

China und „Die unmögliche Tatsache"

von Norbert F. Tofall


Das Gedicht „Die unmögliche Tatsache“ von Christian Morgenstern schließt bekanntlich mit den Worten: „Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“ Diese weitverbreitete Unwilligkeit, Tatsachen anzuerkennen oder mögliche negative Entwicklungen im eigenen Handeln vorsorgend zu berücksichtigen, weil diese Tatsachen und möglichen negativen Entwicklungen den eigenen bisherigen Wünschen und ökonomischen Zielen entgegenlaufen und so die Lücke zwischen Sein und Sollen unangenehm vergrößern, scheint auch große Teile der deutschen Wirtschaft in Bezug auf China befallen zu haben. Obwohl die USA seit mehreren Jahren parteiübergreifend eine China-Politik vorantreiben, die eindeutig ganz erhebliche Elemente der Entkopplung der US-amerikanischen Wirtschaft von China enthalten, scheinen große Teile der deutschen Wirtschaft gezielt Sein und Sollen zu verwechseln und davon auszugehen, daß es zu einer Entkopplung der europäischen und deutschen Wirtschaft von China nicht kommen werde. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank sind die deutschen Direktinvestitionen in China im ersten Halbjahr 2022 sogar auf die Rekordhöhe von 10 Milliarden Euro gestiegen.1 Da die Bundesrepublik Deutschland im ersten Halbjahr 2022 weltweit Investitionsgarantien von 1,0 Milliarden Euro für Direktinvestitionen in anderen Ländern übernommen hat, davon 71 Prozent allein auf Asien – nicht nur auf China – entfielen,2 dürften 90 bis 95 Prozent der 10 Milliarden Euro deutscher Direktinvestitionen des ersten Halbjahres 2022 in China nicht staatlich abgesichert sein und unterliegen dem vollen unternehmerischen Risiko.

„Die unmögliche Tatsache“ beruht für große Teile der deutschen Wirtschaft und insbesondere der Großindustrie und der Autobauer darin, daß man sich selbstverschuldet in die Umsatzabhängigkeit vom chinesischen Markt begeben hat und man nun unwillig ist, diese zu einseitige und damit falsche Strategie einzugestehen und die drohenden Verluste zu benennen. Daß sich durch diese Unwilligkeit jedoch gerade die Gefahr noch größerer Verluste steigert, wird beflissentlich ausgeblendet. Jedem Anleger stellt sich deshalb die Frage, ob dieses unverantwortliche Managementhandeln nicht bereits an die Risiken eines Pyramidenspiels grenzt. Nur wenn die gewünschte positive zukünftige Entwicklung eintritt, geht das Spiel auf. Tritt diese erhoffte positive Entwicklung jedoch nicht ein, fällt die Pyramide in sich zusammen. Aber dann heißt es vermutlich wie im Fall der einseitigen deutschen Energieabhängigkeit von Russland oder der Finanzkrise von 2007/2008, daß diese negative Entwicklung niemand voraussehen konnte und daß deshalb der Steuerzahler für die Fehler des unverantwortlichen Managementhandels aufkommen müsse. To big to fail...

Im Jahr 2021 beruhten 38 Prozent des Umsatzes von Infineon, 37,2 Prozent des Umsatzes von VW, 32,2 Prozent des Umsatzes von Daimler, 31,7 Prozent des Umsatzes von BMW, 22,3 Prozent des Umsatzes von Covestro, 21,6 Prozent des Umsatzes von Adidas, 15,3 Prozent des Umsatzes von BASF, 14,7 Prozent des Umsatzes von Merck und 13,2 Prozent des Umsatzes von Siemens auf dem chinesischen Markt.3 Daß diese Abhängigkeiten nicht von heute auf morgen abgebaut werden können, liegt auf der Hand.4 Aber ist es mit verantwortlichem Managementhandeln zu vereinbaren, diese Abhängigkeiten sogar noch weiter auszubauen? Wohl kaum!

Aber auch die Politik scheint mit der „unmöglichen Tatsache“ ihre Probleme zu haben. Überfällig ist eine gemeinsame China-Strategie der USA und der EU möglichst unter Einbindung von Japan und Australien, die sowohl eine robuste gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik gegen Chinas Hegemoniestreben enthält als auch eine gemeinsame Wirtschafts- und Handelspolitik, mit welcher China zur Einhaltung des gleichen Rechts für alle im Welthandel und den internationalen Beziehungen gedrängt wird. Vor allem die europäischen Regierungen dürfen nicht der Versuchung erliegen, durch „Wandel durch Annäherung“ China auf einen besseren Weg führen zu können, was nicht gelingen wird.5 Die Frage, wie man mit einem Systemgegner umgeht, muß robust beantwortet werden.6

Während die Reise des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz im November 2022 nach China Zweifel erweckt, ob der deutsche Bundeskanzler ernsthaft bereit ist, China als Systemgegner anzusehen und von den Versuchungen des Konzepts „Wandel durch Annäherung“ zu lassen, atmet ein Papier des Bundeswirtschaftsministeriums vom 24. November 2022 erheblich mehr Realismus.

Das wirtschaftliche Umfeld in China habe sich zusehends verschlechtert und in Richtung Abschottung und signifikant gesteigerter staatlicher Kontrolle gewandelt.7

„Rückblickend hat die in den späten 1970-iger Jahre eingeleitete Phase der Reform und Öffnung mit Amtsantritt von Präsident Xi 2012 ihr Ende gefunden. Chinas Ziel, bis 2049 zur unangefochtenen Weltmacht mit Spitzenstellung in Wirtschaft, Technologie und Militär aufzusteigen, bedeutet für deutsche Unternehmen, dass immer weniger das bessere Produkt, sondern vielmehr die Relevanz des eigenen Geschäfts für die Entwicklungsziele und politischen Vorgaben der KPCh ausschlaggebend für den Zugang zum und Erfolg auf dem chinesischen Markt sind.“8

„In einem von wachsender Systemrivalität und zunehmenden geopolitischen Spannungen geprägten bilateralen Verhältnis stellen enge wirtschaftliche Verflechtungen mit und punktuelle Abhängigkeiten von China wachsende Risiken für die politische Handlungsfreiheit Deutschlands und der EU dar. Dem sollte rechtzeitig und entschlossen mit erforderlichen Politikanpassungen und Maßnahmen entgegengewirkt werden.“9

Das grundsätzliche Interesse am Wirtschaftsaustausch mit China bleibe aber bestehen. Eine umfassende Entkopplung sei nicht beabsichtigt.10

Deutschland und die EU würden langfristig nur erfolgreich sein, wenn die Wirtschaftsbeziehungen zu China unsere geopolitische Handlungsfähigkeit nicht einschränkten. Insgesamt solle bei der Gestaltung der Handels- und Wirtschaftspolitik gegenüber China der Fokus auf die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, Resilienz und technologischen Souveränität Deutschlands und der EU gerichtet werden.11

„Die Diversifizierung unserer Handels- und Lieferbeziehungen sowie der Abbau kritischer Abhängigkeiten spielen hierbei eine zentrale Rolle und sollten konsequent gemeinsam mit der Wirtschaft vorangetrieben werden.“12

Anschließend werden in dem Papier dann auf über 65 Seiten konkreten Handlungsempfehlungen skizziert.

Ob die Handlungsempfehlungen dieses internen Papiers zur von Olaf Scholz maßgeblich zu bestimmenden Regierungspolitik werden, bleibt abzuwarten. Das größte Problem dürfte in dem Interessengegensatz liegen, der zwischen der deutschen Großindustrie, die sich selbstverschuldet in die chinesische Abhängigkeit begeben hat und diese sogar noch ausbauen möchte, und den geopolitischen Erfordernissen Deutschlands und der EU bestehen, dem Systemgegner China robust entgegenzutreten. Je früher die deutsche und europäische Politik den deutschen und europäischen Großkonzernen glaubwürdig verdeutlicht, daß die Konzerne mögliche negative ökonomische Folgen ihres China-Engagements selbst tragen müssen und daß es keinen Bailout geben wird, desto früher dürften die Konzerne ein ökonomisches Eigeninteresse entwickeln, ihre Abhängigkeiten von China zu verringern.

Ein erster Schritt, den die Politik bereits angefangen hat zu gehen, bildet das Zurückfahren von staatlichen Absicherungen für Direktinvestitionen in China. Trotzdem könnten Großkonzerne versucht sein, ein Erpressungsspiel des „To Big to Fail“ zu spielen. Sollte jedoch den Anlegern auf den internationalen Finanzmärkten dieses Spiel zu risikoreich sein, könnten höhere Risikoprämien gefordert werden, so daß von der Marktseite her, der Abbau von chinesischen Abhängigkeiten gefordert wird. Da die USA bereits seit geraumer Zeit eine eskalierende Politik gegenüber China fahren, Deutschland und die EU sich aber letztlich nicht von den USA abkoppeln werden können, ist es vielleicht nur eine Frage der Zeit, daß die Finanzmärkte die chinesischen Risiken der deutschen und europäischen Konzerne ins Visier nehmen.


1 Siehe „Deutsche Wirtschaft baut China-Geschäft aus“, iwd – Der Informationsdienst der deutschen Wirtschaft vom 26. August 2022, online: https://www.iwd.de/artikel/deutsche-wirtschaft-baut-china-geschaeft-aus-556923/

2 Siehe Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz: Investitionsgarantien Halbjahresbericht 2022, Juli 2022, S. 4.

3 Siehe „Das Problem der deutschen Industrie mit China“, Handelsblatt vom 17. Oktober 2022, online: https://www.handelsblatt.com/politik/international/vw-siemens-basf-das-problem-der-deutschen-industrie-mit-

4 Siehe auch Agnieszka Gehringer: Die gefährlichen Handelsabhängigkeiten der EU, Studie zur Makroökonomie des Flossbach von Storch Research Institute vom 9. November 2022, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/die-gefaehrlichen-handelsabhaengigkeiten-der-eu/

5 Vgl. Norbert F. Tofall: Chinas Wandel durch Handel. Und die fatale Verwechslung mit „Wandel durch Annäherung“, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 14. Oktober 2022, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/chinas-wandel-durch-handel-und-die-fatale-verwechslung-mit-wandel-durch-annaeherung/

6 Siehe Norbert F. Tofall: Das China-Dilemma. Oder wie geht man mit einem Systemgegner um? Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 12. Februar 2021, online: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/das-china-dilemma-oder-wie-geht-man-mit-einem-systemgegner-um/

7 Vgl. „Interne chinapolitische Leitlinien“, Stand: 24. November 2022, S. 16.

8 Ebenda, S. 16.

9 Ebenda, S. 16-17.

11 Vgl. ebenda, S. 17.

12 Ebenda, S. 17.

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