09.02.2024 - Kommentare
US-Präsident Joe Biden ist es in seiner Amtszeit nicht ansatzweise gelungen, die politische und gesellschaftliche Polarisierung in den USA zu vermindern. Und Ex-Präsident Donald Trump wurde trotz seiner Wahlniederlage im November 2020, trotz des Sturms auf das Kapitol im Januar 2021 und trotz strafrechtlicher Anklagen politisch bislang nicht entzaubert und scheint die Republikanische Partei stärker unter Kontrolle zu haben als je zuvor. Seine ständig wiederholte Behauptung, ihm sei 2020 der Wahlsieg gestohlen worden, hat nicht nur die Polarisierung in den USA weiter angeheizt, sondern das Vertrauen vieler US-Amerikaner in die Stabilität der politischen Institutionen der USA geschwächt und beschädigt. Früher oder später zeitigt beschädigtes Vertrauen in politische Institutionen auch immer Folgen für die Wirtschaft.
Der amtierende US-Präsident Joe Biden hat in den letzten Jahren ein schuldenfinanziertes wirtschaftspolitisches Programm verfolgt, in welchem viele Anhänger der Republikanischen Partei bereits den Sozialismus am Werk sehen, welches aber vielen Anhängern der Demokratischen Partei noch längst nicht weit genug geht. Darüber hinaus wirken die kulturkämpferischen Frontstellungen in den USA, die durch rechte und linke Identitätspolitik geprägt sind, zurück auf die Wirtschaftspolitik. Denn die kulturkämpferischen Frontstellungen verhindern die Formulierung eines ökonomischen und politischen Programms, das über Parteigrenzen hinweg hinreichend Zustimmung erhalten könnte und zudem geeignet ist, politische und ökonomische Problemverschleppungen und Politikblockaden zu beenden.
Da die institutionellen politischen Strukturen in den USA nicht auf einseitige Richtungsentscheidungen ausgelegt sind, diese im Gegenteil durch Checks and Balances verhindert werden sollen, führt politische Polarisierung in den USA regelmäßig zu Politikblockaden und Problemverschleppungen. Politikblockaden und Problemverschleppungen erhöhen dann abermals die politische und gesellschaftliche Polarisierung.
Daß dieser Teufelskreis durch die US-Wahlen im November 2024 durchbrochen werden kann, ist unwahrscheinlich. Eine Nominierung von Nikki Haley als Präsidentschaftskandidatin der Republikanischen Partei könnte die Geschwindigkeit dieses Teufelskreises zwar dämpfen; es sieht derzeit jedoch nicht danach aus, daß sich Nikki Haley in den Vorwahlen der Republikaner gegen Donald Trump durchsetzen wird. Falls Trump nicht per Gerichtsbeschluß von der Präsidentenwahl ausgeschlossen wird, bleibt momentan eine Wiederholung des Duells Biden gegen Trump wahrscheinlich.
Einerseits ist dann zu befürchten, daß bei einem erneuten Wahlsieg von Joe Biden ein unterlegener Donald Trump und seine Anhänger wieder behaupten werden, Trump sei der Wahlsieg gestohlen worden. Ein neuer Sturm auf das Kapitol oder andere Formen bürgerkriegsähnlicher Aktionen könnten die Folge sein. Aber auch bei einem Wahlsieg von Donald Trump, insbesondere wenn dieser knapp ausfällt, sind bürgerkriegsähnliche Aktionen aus dem Lager seiner Gegner nicht auszuschließen.
Andererseits droht bei einem Wahlsieg von Donald Trump ein systematisches Aushebeln der „Checks and Balances“, also ein Umbau der US-amerikanischen Verfassungsordnung, mit der Begründung, daß der „Deep State“ bereits in der ersten Amtszeit von Donald Trump seine Politik massiv behindert hätte und ihm im November 2020 sogar seinen Wahlsieg gestohlen habe. Joe Biden und seine Anhänger warnen deshalb vor einer gezielten Beschädigung der Demokratie durch Donald Trump nach dessen möglicher Wiederwahl und vor einem aufziehenden Faschismus in den USA.
Donald Trump ist sicherlich kein ideologischer Faschist1 wie Mussolini oder Hitler oder auch nur ein Anhänger der Geisteswelt der sogenannten „Konservativen Revolution“2 in Deutschland von 1918 bis 1932, die nicht konservativ, sondern faschistisch war.3 Auch der Vergleich mit General Franco und der spanischen Falange führt in die Irre. Und auch die Ästhetik eines Gabriele D’Annunzio, der 1919 Fiume besetzte und in dieser Kommune viele Herrschaftsformen des Faschismus pflegte und Lebensformen der späteren linken 1968er Bewegung vorwegnahm,4 paßt nicht zu Trump. Donald Trump ist zwar ähnlich wie D’Annunzio ein Meister von „Fiktion, Politik und Populismus“5, ihm fehlt jedoch vollständig die literarische Bildung und Grandezza von D‘Annunzio. Um zu erkennen, daß Donald Tumps abgrundtiefe Selbstverliebtheit und seine Vorliebe für Befehle und Anordnungen, die mit einer enormen Skrupellosigkeit und demagogischen Grobheit einhergeht, demokratische Institutionen beschädigen und deshalb durchaus zum Faschismus führen können, muß anders angesetzt werden.
Bereits Monate bevor Donald Trump erstmals zum Präsidentschaftskandidaten der Republikanischen Partei in den USA gekürt wurde, hatte das Flossbach von Storch Research Institute im März 2016 Donald Trump als den Clodius Pulcher der USA charakterisiert und angemahnt, daß „wir sein großes Spiel, das er seit dem 16. Juni 2015 inszeniert, sehr ernst nehmen“ sollten:6
Publius Claudius Pulcher (92 v. Chr. – 52 v. Chr.) war ein Politiker in der Zerfallsphase der römischen Republik. Er stammte aus der Patrizierfamilie der Claudier. Den plebejischer klingenden Namen Clodius nahm er an, nachdem er sich von einem Plebejer hatte adoptieren lassen, um 59 v. Chr. Volkstribun werden zu können. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Volkstribun bestand in der Vorlage eines Gesetzes, welches die kostenlose Abgabe von Getreide an das Volk vorsah. Drei Jahre zuvor entging Clodius einer Verurteilung wegen incestum, weil er die Geschworenen erfolgreich bestochen hatte. Bei der Durchsetzung seiner Politik stützte sich Clodius auf die römische Plebs und setzte gezielt Gewalt und Straßenkämpfe zur Zerstörung der öffentlichen Ordnung und politischen Institutionen ein.
Doch die römische Plebs liebte und verehrte Clodius. Denn Clodius Pulcher kämpfte gegen die etablierten Eliten, die sich nach ihrer Ansicht hemmungslos bereicherten, das römische Gemeinwesen ausbeuteten und sich nicht an die tradierten Sitten und Regeln hielten, die öffentlich so hochgehalten wurden. Clodius stammte zwar auch aus diesem Establishment und bereicherte sich noch hemmungsloser als seine Standesgenossen, gab dieses aber ohne Scham offen zu. Sein Erfolg bestand gerade darin, diese Schamlosigkeit und die Verachtung der tradierten Sitten und Regeln zum Prinzip erhoben zu haben.
Clodius Pulcher und Donald Trump und andere populäre Unterhaltungsstars mit politischen Ambitionen zielen bewußt auf die Verstärkung und Entgrenzung eines menschlichen Defektes, der zur conditio humana gehört und eine negative anthropologische Grundkonstante darstellt. In seinem Buch „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ beschreibt René Girard den uns hier interessierenden menschlichen Defekt anschaulich als „mimetische Rivalität“, die sich durch „mimetische Ansteckung“ zum „mimetischen Furor“ steigern kann.7
Werden Regeln und Regelsysteme aus welchen angeblich guten Gründen auch immer gezielt und dauerhaft verletzt und vor allem von denen verletzt, die durch Amt die Pflicht hätten, sie einzuhalten, dann können die mimetischen Rivalitäten zwischen den Menschen in einer Gesellschaft nicht mehr mit Verweis auf Moral, Anstand, tradierte Sitten und Regeln zivilisiert werden. Der Verweis, daß Moral und Anstand, tradierte Sitten und Regeln für Wohlstand für alle sorgen, wird nicht mehr geglaubt. Die etablierten Eliten in Wirtschaft, Medien, Politik und Wissenschaft verlieren das Vertrauen, weil sie sich vielfach an der Durchsetzung von Sonderinteressen auf Kosten Dritter beteiligt haben, geben dieses Versagen aber nicht zu, heucheln sogar, daß sie die geltenden Regeln und Regelsysteme einhalten würden.
Da die mimetischen Rivalitäten zwischen den Menschen in derartigen gesellschaftlichen Krisensituationen nicht mehr zivilisiert werden können, liegen sie offen zu Tage und werden verstärkt offen ausgespielt. Jetzt müssen sie nur noch angestachelt werden, damit durch mimetische Ansteckung ein Furor entsteht, der die bisherige Ordnung und die bestehenden Regelsysteme ins Wanken bringt. Es werden immer mehr Menschen angesteckt, was sich zum mimetischen Furor steigert. Durch verstärkte Freund-Feind-Polemik erhalten die mimetischen Rivalitäten ein Ziel, auf das sich die entfesselte Aggression der Einzelnen richten kann. Die entstehende politische und gesellschaftliche Polarisierung wird absichtlich nicht minimiert, sondern maximiert und in alle politischen und gesellschaftlichen Bereiche getragen.
Um diesen Prozeß in Gang zu setzen, muß jemand den ersten Stein werfen. Und es werfen nur diejenigen den ersten Stein, denen es egal ist, daß sie nicht ohne Sünde sind, und die genau wissen, daß sie gerade durch die öffentliche Zurschaustellung der eigenen Verruchtheit und Schamlosigkeit den Applaus der wütenden Massen ernten. Denn die wütenden Massen dürsten danach, daß ihnen jemand bestätigt, daß es da oben genauso verrucht zugeht, wie sie schon immer vermutet haben. Und wer kann das glaubwürdiger als derjenige, der noch verruchter ist als seine Standesgenossen, der quasi der Hohepriester des menschlich Dunklen ist.
Aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen als Medienunternehmer und populärer Unterhaltungsstar wußte Donald Trump 2015/2016 genau, wie er agieren muß, um einen derartigen gesellschaftlichen und politischen Prozeß hin zum mimetischen Furor in Gang zu setzen. Er hatte derartige Prozesse spielerisch in seinen TV-Shows über Jahre erfolgreich inszeniert. Seine Äußerung, er könne jemanden auf offener Straße erschießen und würde trotzdem nicht an Popularität verlieren, ist instruktiv.
Trump hatte deshalb auch keine Skrupel, Wochen vor der Präsidentenwahl im November 2020 zu behaupten, daß ihm, falls er die Wahl verlieren sollte, der Deep State die Wahl gestohlen habe. Durch die seitherige ständige Wiederholung dieser Lüge, der Deep State habe ihm den Wahlsieg 2020 gestohlen, hält Trump zum einen den gesellschaftlichen und politischen Furor im Land am Kochen. Die gesellschaftliche Befriedungsfunktion von demokratischen Wahlen wurde dadurch zielgerichtet zerstört. Zum anderen dient diese Lüge als Distinktions- und Disziplinierungsmittel innerhalb der Republikanischen Partei. Wer diese Lüge nicht vertritt oder ihr sogar offen entgegentritt, ist ein Verräter und wird von Trump und seinen Anhängern verfolgt und geächtet.
Trump wendet damit das gleiche Mittel an, das im Zuge der Dreyfus-Affäre die Action française angewendet hatte. „Die Action française ist die erste politische Gruppierung von Einfluß und geistigem Rang, die unverkennbar faschistische Züge trägt.“8 Auch hier wurde eine Lüge – der französische Offizier und Jude Alfred Dreyfus sei ein deutscher Spion und Verräter von Staatsgeheimnissen – als Distinktions- und Disziplinierungsmechanismus in dem Sinne verwendet, daß diejenigen, die sich gegen diese Lüge stellen, Feinde Frankreichs seien.9 Für Trump und seine Anhänger sind alle, die sich gegen die Lüge stellen, Trump sei der Wahlsieg 2020 gestohlen worden, Feinde von „MAGA“ – Feinde von „Make America Great Again“.
In dieser Sichtweise werden die „Checks and Balances“ der US-amerikanischen Verfassung, welche auch die politischen Handlungsmöglichkeiten eines gewählten Präsidenten begrenzen sollen, als Teil des „Deep State“ denunziert, eines Deep State, der sich gegen MAGA stellt. Soll MAGA diesmal gelingen, muß der Deep State vernichtet werden. Deshalb hat Donald Trump für den Fall seines Wahlsieges im November 2024 angekündigt, alle Personen in Justiz und Politik auszutauschen, die sich ihm in den Weg gestellt haben. Daß das ohne eine Beschädigung der Unabhängigkeit der Gerichte und ohne Aushebelung der „Checks and Balances“ umgesetzt werden kann, ist unwahrscheinlich.
Mit seinem aggressiven und rücksichtslosem Clodius-Pulcher-Politikstil ist Donald Trump zwar der größte Nutznießer der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung in den USA, er hat diese Polarisierung aber nicht verursacht. Ohne die sich seit nunmehr zweieinhalb Jahrzehnten verstärkende Polarisierung in den USA hätte ein Charakter wie Donald Trump nicht die geringste Chance gehabt, im Jahr 2016 Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu werden. Und ohne die bereits vor 2016 vorhandene Polarisierung wäre es Donald Trump nach seiner Wahlniederlage im November 2020, nach dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 und vor allem angesichts seiner vielen Strafrechtsverfahren nicht gelungen, die Republikanische Partei im Jahr 2024 mehr denn je unter seiner Kontrolle zu haben.
Bereits 1999 schrieb Gertrude Himmelfarb, eine Anhängerin des politischen Philosophen Leo Strauss und Ehefrau des neokonservativen Irving Kristol, in ihrer Streitschrift „One Nation, Two Cultures“:
„The cultural divide helps explain the peculiar, almost schizoid nature of our present condition: the evidence of moral disarray on the one hand and of a religious-cum-moral revival on the other. This disjunction is apparent in small matters and large… The polarization is most conspicuous in such hotly disputed issues as abortion, gay marriage, school vouchers, and prayers in public schools. But it has larger ramifications, affecting beliefs, attitudes, values, and practices on a host of subjects ranging from private morality to public policy, from popular culture to high culture, from crime to education, welfare, and the family. In some respects, it is even more divisive than the class polarization that Karl Marx saw as the crucial fact of life under capitalism.”10
Bemerkenswert ist erstens, daß die bereits 1999 von Gertrude Himmelfarb identifizierten Polarisierungs-Themen heute noch stärker als vor 25 Jahren relevant zu sein scheinen. Im aufziehenden Wahlkampf des Jahres 2024 werden die Themen Abtreibung und Geschlechteridentität nicht von ungefähr eine große Rolle spielen. Im Laufe der Jahre haben sich die Anhänger einer rechten Identitätspolitik hinter dem Label MAGA und die Anhänger einer linken Identitätspolitik hinter dem Label LGBTQ versammelt und unterstellen sich gegenseitig, den Untergang der Nation und die Vernichtung der Freiheit herbeizuführen. Zweitens hat sich Himmelfarbs Beobachtung, daß diese kulturellen Frontstellungen in alle gesellschaftlichen und politischen Bereiche hineinwirken verstärkt.
So hat das Thema Migration für den Wahlkampf 2024 eine derart große Bedeutung, daß Donald Trump derzeit alles unternimmt, daß das Migrationsthema nicht durch einen Haushaltskompromiß zur Finanzierung des Grenzschutzes, der Ukraine und Israel zwischen der Republikanischen und Demokratischen Partei als Wahlkampfthema abgeräumt wird. Der hinter dem Migrationsthema stehende Kulturkampf wird von Trump für die Wählermobilisierung als wichtiger angesehen als pragmatische Schritte zur Verbesserung des Migrationsproblems. Pragmatische Schritte zur Verbesserung des Migrationsproblems werden gezielt blockiert und die Problemlösung wird weiter verschleppt. Und das Thema Migration ist nur ein Beispiel für diesen Clodius-Pulcher-Politikstil.
Jeder Politiker in den USA und jeder nur halbwegs informierte US-Bürger weiß um die Notwendigkeit, angesichts der „Checks and Balances“ Kompromisse vereinbaren zu müssen. Daß die gezielte Torpedierung von Kompromissen, die zu Politikblockaden und Problemverschleppung führt, in den USA aber nicht mehr als Untugend, als destruktiv und deshalb als für ein Amt disqualifizierend angesehen wird, zeigt, daß die kulturellen Frontstellungen und der Kulturkampf in den USA die allgemeine Anerkennung und Achtung der „Checks and Balances“ unterminieren und einen an diesen Regeln ansetzenden parteiübergreifenden Verfassungspatriotismus – im Sinne der Gemeinsamkeit aller Bürger eines freiheitlichen Gemeinwesens, die sich im Respekt vor den gemeinsamen Regeln niederschlägt – außer Kraft setzen. Und gerade aus diesem Grund steht zu befürchten, daß im Falle eines Wahlsiegs von Donald Trump im November 2024 dann folgenden Versuchen, die „Checks and Balances“ auszuhebeln, um den Deep State zu vernichten, nicht der notwendige parteiübergreifende Widerstand entgegengesetzt wird. Ein Aushebeln der „Checks and Balances“ zum Zwecke der Vernichtung des „Deep State“ dürfte von sehr vielen MAGA-Anhängern sogar bejubelt werden. Ob sich die LGBTQ-Anhänger und andere Anti-Trumpisten die Vernichtung des angeblichen „Deep State“ widerstandslos gefallen lassen werden, ist mitnichten sicher.
Das heißt, die Gefahr, daß die US-amerikanische Demokratie Schaden nimmt und eine neue Form von Faschismus aufziehen könnten, folgt nicht daraus, daß Trump ein ideologischer Faschist wäre, was er auch nicht ist. Die Gefahr einer Beschädigung der US-amerikanischen Demokratie folgt daraus, daß der dominierende Kulturkampf zwischen MAGA und LGBTQ in den USA die ideale gesellschaftliche Bedingungskonstellation für einen Charakter wie Donald Trump bildet, um durch seine abgrundtiefe Selbstverliebtheit und durch seine Vorliebe für Befehle und Anordnungen, die mit einer enormen Skrupellosigkeit und demagogischen Grobheit einhergeht, politisch reüssieren zu können und sei es auf Kosten der Demokratie. Er muß den mimetischen Furor durch seinen Clodius-Pulcher-Politikstil nur am Kochen halten.
Anders als 2016, als Donald Trump nach seinem Wahlsieg ohne ein ausformuliertes Regierungsprogramm und ohne ausreichend Personal dastand, ist Trump im Jahr 2024 programmatisch und personell präpariert. Nach einem Wahlsieg im November 2024 und der Machtübernahme im Januar 2025 könnte Trump umgehend Regierungsposten besetzen und Exekutivanordnungen ohne große Zeitverzögerungen formulieren und unterzeichnen. Es existiert eine „Regierung im Wartestand“, die schnell ihre Arbeit aufnehmen könnte.
Das America First Policy Institute (AFPI)11 und die Heritage Foundation haben umfassende Vorarbeiten geleistet. So hat die Heritage Foundation mit ihrem „Project 2025. Predidential Transition Project“ nicht nur auf gut 900 Seiten ein mögliches Regierungsprogramm ausformulieren lassen,12 sondern auch einen Personalpool mit Namen „Presidential Personnel Database“ eingerichtet13 und bietet zudem korrespondierte Trainingskurse in einer „Presidendial Administration Academy“an.14
In einem Teil II zur Lage in den USA werden wir die Vorstellungen zur Wirtschafts- und Handelspolitik und zur Außen- und Sicherheitspolitik des republikanischen Lagers von Donald Trump mit denen des demokratischen Lagers von Joe Biden vergleichen und die jeweiligen möglichen geopolitischen Auswirkungen analysieren. Aufgrund der in diesem Teil I ausführlich dargestellten kulturellen Frontstellungen in den USA und ihre Auswirkungen auf alle anderen Politikbereiche sind hier folgende Punkte festzuhalten:
Erstens: Die umfangreichen programmatischen Vorlagen und personellen Vorbereitungen für Donald Trump sind zwar ein starkes Indiz dafür, daß Donald Trump im Falle eines Wahlsieges schnell loslegen oder losschlagen kann. Er benötigt jedoch für jedes Gesetz sowohl die Zustimmung des Repräsentantenhauses als auch die des Senats, was nur wahrscheinlich ist, wenn die Republikanische Partei bei den Wahlen im November in beiden Häusern des Kongresses die Mehrheit erlangt. Sollte das nicht der Fall sein, ist er auf parteiübergreifende Kompromisse angewiesen. Aufgrund des selbst von ihm befeuerten Kulturkampfes sind Kompromisse in vielen Fragen nicht sehr wahrscheinlich, was zu weiteren Politikblockaden und Problemverschleppungen führt. Trump dürfte dann versucht sein, vermehrt durch Exekutivanordnungen zu regieren und deren Grenzen auszuloten und auszuweiten, so daß den Gerichten eine entscheidende Rolle zuwächst. An dieser Stelle werden seine Äußerungen, er werde Diktator sein, aber nur für einen Tag, bedeutsam. Daß er den sogenannten Deep State vernichten will, hat er angekündigt. Das dürfte ohne eine Verletzung der „Checks and Balances“ aber nur schwer umzusetzen sein. D.h., daß ein noch so umfassendes und bereits ausformuliertes Regierungsprogramm durch die „Checks and Balances“ ausgebremst werden könnte, aber gerade dadurch die Versuchung für Trump steigt, die „Checks and Balances“ auszuhebeln.
Zweitens: Es ist überhaupt nicht ausgemacht, inwieweit sich ein Charakter wie Donald Trump an die programmatischen Vorstellungen seiner Unterstützer und das von ihnen ausgewählte Personal gebunden fühlt. Vor seinem Wahlsieg 2016 versprach Trump, die Taylor-Rule für die Geldpolitik einzuführen. Nach seinem Wahlsieg wollte er davon nichts mehr wissen. Ein Charakter wie Trump hält nicht viel von regelgebundener Politik. Er verspricht zwar Erleichterungen für die Wirtschaft, hat mit Ordnungspolitik im Sinne von allgemeinen und abstrakten Regeln aufgrund seiner Vorliebe für Befehle und Anordnungen aber nichts am Hut. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb Trump nicht die ungeteilte Unterstützung der US-amerikanischen Wirtschaft besitzt. Ob die US-amerikanische Wirtschaft mehrheitlich hinter Trump steht, ist kaum zu ermitteln. Beispielsweise waren die Koch-Brüder schon immer gegen Trump und unterstützen Nikki Haley mit erheblichen finanziellen Mitteln. Daß sich Nikki Haley wohl nicht gegen Trump in den laufenden Vorwahlen durchsetzen wird, hat nichts mit mangelnder Unterstützung aus Wirtschaftskreisen zu tun. Nikki Haley kann sich trotz erheblicher finanzieller Unterstützung aus Wirtschaftskreisen derzeit nicht gegen Trump durchsetzen, weil kulturelle Frontstellungen und Kulturkampf dominieren und in alle Politikbereiche hineinreichen.
Drittens: Nikki Haley hat vermutlich nur dann noch eine Chance, Präsidentschaftskandidatin der Republikanischen Partei zu werden, wenn die laufenden Gerichtsverfahren gegen Donald Tump wegen versuchten Wahlbetrugs oder wegen Beteiligung am Sturm auf das Kapitol dazu führen, daß Donald Trump nicht als Präsidentschaftskandidat im November antreten darf. Ob die Anhänger von Trump einen gerichtlich verfügten Ausschluß von Trump von der Wahl friedlich hinnehmen werden, ist unwahrscheinlich. Trump wird eine derartige Entscheidung mit Sicherheit als gezielte Intrige des Deep State bezeichnen und zum Widerstand aufrufen. Bürgerkriegsähnliche Aktionen sind dann nicht auszuschließen.
Viertens: Falls Donald Trump nicht durch Gerichtsbeschluß von der Präsidentenwahl ausgeschlossen wird, ist mit heutigem Stand (7. Februar 2024) ein erneutes Duell Trump gegen Biden wahrscheinlich. Biden ist 81. Trump ist 77. Beide hatten bereits altersbedingte Ausfälle auf offener Bühne, Biden öfter als Trump. Beide können aus gesundheitlichen Gründen noch vor November ausfallen. Allein deshalb sollte niemand Wetten auf den Wahlausgang abschließen. Eine Nation wie die USA mit über 330 Millionen Einwohnern scheint derzeit nicht in der Lage zu sein, jüngere Kandidaten ins Rennen zu schicken. Die tieferen Ursachen dafür dürften in der Polarisierung der US-amerikanischen Gesellschaft und dem immer heftiger werdenden Kulturkampf liegen. Aber auch jüngere Kandidaten sind keine Garantie für die Überwindung von Polarisierung. Bislang hat kein Politiker in den USA ein Programm zur Überwindung von Polarisierung vorgelegt. Beschädigungen der Demokratie in den USA und die Gefahr einer neuen Form von Faschismus folgen nicht ursächlich aus dem selbstverliebten Agieren von Donald Trump, sondern daraus, daß sich bislang keine wirksame politische Bewegung zur Überwindung von Polarisierung in den USA gebildet hat.
1 Zu Erscheinungsformen und Ideologie des Faschismus immer noch lebenswert Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. Action française, Italienischer Faschismus, Nationalsozialismus (1963), Neuausgabe 1984, 8. Auflage, München (Piper) 1990.
2 Siehe Armin Mohler: Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, 4. Auflage, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1994.
3 Das hat Armin Mohler unter anderem in einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung vom 25./26. November 1995 selbst ausgeführt: "Faschismus ist für mich, wenn enttäuschte Liberale und enttäuschte Sozialisten sich zu etwas Neuem zusammenfinden. Daraus entsteht, was man Konservative Revolution nennt."
4 Siehe Kersten Kipp: Die Kommune der Faschisten. Gabriele D’Annunzio, die Republik von Fiume und die Extreme des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2018.
5 Siehe ebenda das Kapitel 9 „Demagogisches Erbe. Fiktion, Politik, Populismus“, S. 234 f.
6 Siehe Norbert F. Tofall: Donald Trump – der Clodius Pulcher der USA, Wirtschaftspolitischer Kommentar des Flossbach von Storch Research Institute vom 4. März 2016.
7 Siehe René Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums, aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Mainberger-Ruth, mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt a. M. und Leipzig (Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag) 2008. Unter mimetischen Rivalitäten werden die aus „Nachahmung“ (Mimesis) entstehenden Rivalitäten zwischen den Menschen verstanden: Gerade weil mein Nächster das konkrete Haus begehrt, das ich auch begehre, steigert sich mein Begehren noch mehr, wird der begehrte Gegenstand noch begehrenswerter. Ich ahme das Begehren des anderen nach einem Gegenstand nach und dieser meines, weshalb sich nachahmendes Begehren schnell zum Furor steigern kann. Schon kleine Kinder finden ein Spielzeug dann am interessantesten, wenn andere Kinder damit spielen. Die Prügelei im Sandkasten ist oft die Folge. Um diesen Krieg oder Furor zu minimieren, versucht man schon kleinen Kindern beizubringen, was das Mein und das Dein ist, was Eigentum ist. Es wird versucht, Regeln und Regelsysteme durchzusetzen. Darüber hinaus versucht man schon Kindern beizubringen, sich nicht an anderen zu orientieren. Man versucht die mimetische Rivalität zu durchbrechen oder zumindest zu zivilisieren: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat“ (2. Mose 20, 17).
8 Ernst Nolte, a.a.O., S. 57.
9 Siehe Ernst Nolte, a.a.O., S. 90: „Die Geschichte der Action française beginnt mit der Affäre Dreyfus.“ Der Gründer der Action française, Charles Maurras, stellte sich in einem Artikel auf die Seite der Ankläger von Dreyfus und beteiligte sich im Namen des Schutzes der französischen Nation an der immer offensichtlicher werdenden Lüge, der französische Offizier und Jude Alfred Dreyfus sei ein deutscher Spion und Verräter von Staatsgeheimnissen: „Bis zu seinem Tode wird er den Artikel rechtfertigen müssen, in dem er immer „die beste und in jedem Falle nützlichste Tat“ seines Lebens zu sehen vorgibt. Denn man kann nicht daran zweifeln, daß dieser Artikel eine Lüge war und daß Maurras sich darüber keiner Täuschung hingab. (…) Aber er war ernsthaft genug davon überzeugt, daß Frankreich von innen und von außen in seiner Existenz bedroht sei und daß die Armee in jeder Weise die letzte Garantie seines Daseins darstelle. Und insofern waren die Dreyfusards, gerade wenn Dreyfus unschuldig war, gefährliche Feinde“ (S. 93).
10 Gertrude Himmelfarb: One Nation, Two Cultures. A Searching Examination of American Society in the Aftermath of Our Cultural Revolution, New York (Random House) 1999, S. 117 – 118.
11 Siehe https://americafirstpolicy.com/
12 Siehe https://www.project2025.org/policy/
13 Siehe https://www.project2025.org/personnel/
14 Siehe https://www.project2025.org/training/presidential-administration-academy/
10.11.2023 - Wirtschaft & Politik
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