02.12.2022 - Kommentare

Verantwortlichkeit

von Thomas Mayer


Wir haben eine Staatsausgabenquote von über 50 Prozent und eine Staatseinnahmenquote von 48 Prozent.1 Mehr hat der deutsche Staat seinen Bürgern seit der Wiedervereinigung noch nie abgenommen, und selten hat der Staat im Verhältnis zur gesamten Wirtschaftsleistung mehr ausgegeben. Der Staat beschäftigt 4,9 Millionen Menschen, rund 11 Prozent der gesamten Erwerbsbevölkerung, 6,5 Prozent mehr als vor einem Jahrzehnt. Wir leisten uns das zweitgrößte nationale Parlament (nach dem chinesischen Volkskongress) und sind dabei, die größte Regierungszentrale der Welt zu bauen.

Und gleichzeitig haben wir das Gefühl, dass dieser Staat immer weniger leistet. Die staatliche Verwaltung steckt mit ihren Büroklammern und Faxmaschinen noch im 20. Jahrhundert, die Bundeswehr ist zur Landesverteidigung unfähig, Staatsgrenzen können nicht geschützt werden, Staatsunternehmen wie die Bahn haben sich im Versagen eingerichtet, Straßenbrücken sind unpassierbar, der Bau von Flughäfen (Berlin) und Bahnhöfen (Stuttgart) wird zum Alptraum, die Organisation von Wahlen (Berlin) überfordert die damit Beauftragten, Staatsschulden und Inflation laufen aus dem Ruder. Leider trügt das Gefühl nicht. Eine ordentliche Bilanzierung staatlicher Aktivitäten zeigt Kapitalverzehr und bilanzielle Überschuldung.2

Wie konnte es nur so weit kommen? Meine Antwort auf diese Frage, die ich im Folgenden näher erläutern will, ist: durch die von der Politik beförderte Aushöhlung der Verantwortlichkeit.

Extreme Verantwortlichkeit

Jacko Willink und Leif Babin haben als Soldaten der US-Elitetruppe Navy Seals („See, Air, Land“) im Irak gekämpft und ihre dort gemachten Erfahrungen bei der Führung und Durchführung von Kommandoaktionen auf die Führung in und von Unternehmen angewendet.3 In ihrem Buch „Extreme Ownership“ zeigen sie, wie auf die Spitze getriebene („extreme“) Verantwortlichkeit („ownership“) zum Erfolg im militärischen Kampf und wirtschaftlichen Handeln führen kann.4 Durch die Übernahme vollständiger Verantwortlichkeit bei der Führung eines Teams entsteht eine Kultur der Verantwortlichkeit, durch die jeder Einzelne zur vollen Entfaltung seiner Fähigkeiten zum Beitrag des gemeinsamen Erfolgs gebracht werden kann.

Um dem Leser einen besseren Eindruck des Prinzips der extremen Verantwortlichkeit zu vermitteln, fasse ich im Folgenden die wesentlichen von Willink und Babin aufgestellten Prinzipien zusammen, die in der Tradition der „Auftragstaktik“ des preußischen Heeres stehen.

Prinzip 1, extreme Eigenverantwortung: „In jedem Team und jeder Organisation trägt der Anführer die volle Verantwortung für Erfolg und Misserfolg“ (S. 30).

Prinzip 2, es gibt keine schlechten Teams, sondern nur schlechte Führungskräfte: „Der Anführer muss die verschiedenen Teile des Teams so zusammenführen, dass sie einander unterstützen und sich ausschließlich darauf konzentrieren, wie man das gesetzte Ziel am besten erreichen kann“ (S. 55).

Prinzip 3; sei ein Gläubiger: „Um andere davon zu überzeugen und zu inspirieren, einer Mission zu folgen und sie zu erfüllen, muss der Leiter wirklich an die Mission glauben … Wenn ein Leiter nicht daran glaubt, wird er oder sie nicht in der Lage sein…andere davon zu überzeugen…Wenn (ein Leiter) selbst keine gute Antwort geben kann, muss er den Vorgesetzten fragen, bis er den Grund versteht“ (S. 76-77).

Prinzip 4, prüfe das Ego: „Das Ego trübt und stört alles: den Planungsprozess, die Fähigkeit, gute Ratschläge anzunehmen und die Fähigkeit, konstruktive Kritik anzunehmen. Oft ist das schwierigste Ego, mit dem man umgehen muss, das eigene … Wenn persönliche Agenden wichtiger werden als das Team und der Erfolg der übergreifenden Mission, leidet die Leistung und es kommt zum Scheitern" (S. 100).

Prinzip 5, Deckung und Bewegung: „Einfach gesagt heißt dies ‚Teamwork‘.… Wenn sich kleinere Teams innerhalb des Teams so sehr auf ihre unmittelbare Aufgabe konzentrieren, vergessen sie oft, was andere tun oder wie sie sich auf andere Teams verlassen können. Sie können anfangen, miteinander zu konkurrieren, und wenn es Hindernisse gibt, entwickeln sich Feindseligkeit und Schuldzuweisungen … Es liegt an den Führungskräften, die strategische Mission des Gesamtteams im Auge zu behalten und ihr Team daran zu erinnern, dass sie Teil des größeren Teams sind und dass die strategische Mission von größter Bedeutung ist“ (S. 122).

Prinzip 6, einfach ist besser: „So viel wie möglich zu vereinfachen ist entscheidend für den Erfolg. Wenn Pläne und Aufträge zu kompliziert sind, verstehen die Leute sie möglicherweise nicht. Wenn Dinge schief gehen (und sie gehen unweigerlich schief), verschlimmert die Komplexität Probleme, die außer Kontrolle geraten und zu einer totalen Katastrophe führen können" (S. 140).

Prinzip 7, Prioritäten setzen und ausführen: „Selbst die kompetentesten Führungskräfte können überfordert sein, wenn sie versuchen, mehrere Probleme oder eine Reihe von Aufgaben gleichzeitig anzugehen. Das Team wird wahrscheinlich bei jeder dieser Aufgaben scheitern. Stattdessen müssen die Führungskräfte die Aufgabe mit der höchsten Priorität bestimmen – und ausführen“ (S. 161).

Prinzip 8, Entscheidungsgewalt dezentralisieren: „Untergebene Führungskräfte müssen befähigt werden, Entscheidungen über wichtige Aufgaben zu treffen, die erforderlich sind, um die Mission so effektiv und effizient wie möglich zu erfüllen…Jeder taktische Teamleiter muss nicht nur verstehen, was zu tun ist, sondern auch, warum er es tut. [Untergebene Führungskräfte] müssen implizit darauf vertrauen können, dass ihnen vorgesetzte Führungskräfte ihre Entscheidungen unterstützen werden. Ohne dieses Vertrauen können untergebene Führungskräfte nicht effektiv handeln“ (S. 184).

Prinzip 9, Beteiligung an der Planung: „Wenn man der Frontline auch nur einen kleinen Teil des Plans zuschreibt, macht man sie zu Miteigentümern, man hilft ihnen, die Gründe für den Plan zu verstehen, und an die Mission zu glauben, was zu einer weitaus effektiveren Umsetzung und Ausführung vor Ort führt“ (S. 204-205).

Prinzip 10, Führung in der Befehlskette: „Wenn Ihr Chef nicht rechtzeitig eine Entscheidung trifft oder Ihnen und Ihrem Team nicht die notwendige Unterstützung bietet, geben Sie nicht dem Chef die Schuld – geben Sie zuerst sich selbst die Schuld. Untersuchen Sie, was Sie tun können, um die kritischen Informationen für Entscheidungen besser zu vermitteln und Unterstützung zu bekommen" (S. 237).

Prinzip 11, entschlossen handeln unter Unsicherheit: „Es gibt keine hundert Prozent richtige Lösung. Das Bild ist nie vollständig. Führungskräfte müssen sich damit wohlfühlen und in der Lage sein, schnell Entscheidungen zu treffen, und dann bereit sein, diese Entscheidungen schnell an sich entwickelnde Situationen und neue Informationen anzupassen. Das Sammeln von Informationen und Recherchen sind wichtig, aber sie müssen mit realistischen Erwartungen verbunden sein und dürfen eine schnelle Entscheidungsfindung nicht behindern, die oft den Unterschied zwischen Sieg oder Niederlage ausmacht. Das Warten auf die hundert Prozent richtige und sichere Lösung führt zu Verzögerungen, Unentschlossenheit und Unfähigkeit zur Umsetzung“ (S. 254).

Prinzip 12, Disziplin ist Freiheit: „Anstatt uns starrer und unfähig zur Improvisation zu machen, hat uns Disziplin flexibler, anpassungsfähiger und effizienter gemacht. Sie hat es uns ermöglicht, kreativ zu sein…Während erhöhte Disziplin meistens zu mehr Freiheit führt, gibt es einige Teams, die durch auferlegte Disziplin so rigide werden, dass sie die Fähigkeit ihrer Führung und des Teams einschränken, Entscheidungen zu treffen und frei zu denken…Deshalb muss zwischen Disziplin und Freiheit die richtige Balance gefunden und gehalten werden…Tatsächlich ist (jedoch) die Disziplin der Pfad zur Freiheit“ (S. 273-274).

Verantwortlichkeit und Unverantwortlichkeit

Es würde hier zu weit führen, die von Willink und Babin beschriebenen konkreten Beispiele für die erfolgreiche Anwendung dieser Prinzipien in der Unternehmensführung zu referieren. Stattdessen möchte ich die Ergebnisse des Handelns im Spektrum von Verantwortlichkeit bis zu Unverantwortlichkeit illustrieren.

Meist fühlen sich Menschen für sich selbst, ihre direkte Umgebung und ihren Besitz stärker verantwortlich als für Dinge, die ihnen ferner liegen. Tatsächlich zeigen Untersuchungen, dass Unternehmen, die von ihren Inhabern geführt oder kontrolliert werden, insgesamt erfolgreicher sind als Aktiengesellschaften. Philipp Immenkötter und Kai Lehmann kommen in einer jüngeren Untersuchung zu dem Schluss: „Mit einem gleichgewichteten Portfolio der Aktien inhaberkontrollierter Unternehmen konnte über die letzte Dekade jährlich 3,2 % mehr Rendite als mit einem Portfolio der Vergleichsunternehmen erwirtschaftet werden.“5

Dem entsprechend liegt der Fokus bei Aktiengesellschaften darauf, inwieweit die Interessen des Managements mit denen der Eigentümer in Übereinstimmung gebracht werden können. Dabei gilt, dass ein Management mit „Skin in the Game“ bessere Erfolge erzielen sollte, da dies wie bei inhabergeführten Unternehmen zu mehr Verantwortlichkeit in der Leitung führen sollte.6 Aus diesen Untersuchungen kann man den Schluss ziehen, dass neben der auf genauer Analyse fußenden Problemlösung Verantwortlichkeit zur Handlungslogik des privaten Wirtschaftsbereichs gehört. Damit hat dieser Bereich starke Ähnlichkeit mit dem militärischen Bereich, wie die von Willink und Babin aufgezeigten Parallelen anschaulich zeigen.

Bewegt man sich von diesen Bereichen weg und hin zu den Bereichen von Politik und Verwaltung, gleitet man auf der Skala der Verantwortlichkeit von extremer Verantwortlichkeit zu weitgehender Unverantwortlichkeit hinab. Beginnen wir mit der Politik. Im vor-säkularen Zeitalter autokratischer Herrschaft sah sich der Herrscher im christlichen Abendland vor allem Gott verantwortlich. Mit der Aufklärung verschob sich die Verantwortlichkeit in den säkularen Bereich.

Wo Verantwortlichkeit im Hinblick auf das Gemeinwohl verstanden und als die Verwirklichung eines „allgemeinen Willens“ definiert wurde, stand das Kollektiv über dem Einzelnen. Ähnlich wie frühere Herrscher auf Gott beriefen sich die Anführer des Kollektivs meist auf eine einzig wahre Lehre, der auch die höchste Verantwortlichkeit für alles Handeln zugeschrieben wurde. Als Vertreter dieser Lehre beanspruchten sie Unfehlbarkeit ohne eigene Verantwortlichkeit für ihr Handeln zu übernehmen. Auf banale Weise kam dies in der Hymne der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der führenden Partei der DDR, durch ihren einprägsamen Vers zum Ausdruck: „Die Partei, die Partei, die hat immer recht“.

Wo jedoch die Gesellschaftsordnung den Einzelnen die Verwirklichung ihrer Ziele ermöglichen sollte, war Freiheit mit Verantwortlichkeit untrennbar verbunden. Denn ohne Ordnung kann es keine Freiheit für alle (sondern nur absolute Freiheit für einen oder wenige) geben, und ohne verantwortlichen Gebrauch der Freiheit zerbricht die Ordnung. Eigenverantwortlichkeit der Bürger ist folglich die Voraussetzung für den liberalen Staat, ohne die er nicht existieren kann.

Doch zeigt der Rückblick, dass die Ordnung der Freiheit in Deutschland keine starken Wurzeln schlagen konnte. Die Revolution von 1848 scheiterte und im Deutschen Reich fand die Idee der Freiheitsordnung in der abgeschwächten Form des Nationalliberalismus nur vorübergehend Gehör. Erst mit der Niederlage von 1945 wurde sie von den Siegermächten USA und Großbritannien nach Westdeutschland gebracht, während der Osten im Kollektivismus verharrte.

Unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Erfolge der liberalen Ordnung verabschiedete sich die SPD in ihrem Godesberger Programm 1959 vom Marxismus, dem sie lange angehangen hatte. Doch nach der Ära Schröder schwang das Pendel ab Mitte der 2000er Jahre wieder in Richtung Kollektivismus zurück. Heute ähnelt die wieder unter dem Einfluss der Linken stehende SPD einer an Demenz erkrankten Person, die nicht mehr recht weiß, warum sie macht, was sie macht, es aber dennoch mit geschwächter Kraft weiter macht.

Statt im Marxismus des 19. Jahrhunderts wie die SPD hat die Partei der Grünen ihre Wurzeln im harten Leninismus-Maoismus des 20. Jahrhunderts. Mit zunehmendem Alter der Protagonisten (wie Reinhard Bütikofer, Winfried Kretschmann, Jürgen Trittin oder Claudia Roth) wurde diese Ideologie von weichem Antikapitalismus und harter Umweltideologie abgelöst.7 Verantwortlichkeit wird nun im Hinblick auf den Klimawandel (von manchen absolut) definiert.

Dagegen könnte die christlich-konservative CDU/CSU aus dem christlichen Verständnis der Persönlichkeit dem Liberalismus näherstehen als die von links-grüner Ideologie getriebenen Parteien. Doch wird dieses Verständnis immer wieder durch die sozialistische Interpretation der christlichen Lehre verwässert. Mit Angela Merkel starben die christlichen Wurzeln der CDU schließlich weitgehend ab und es wehte ein Hauch von DDR-Sozialismus mit Reisefreiheit und Farbfernsehen durch die Partei.

Verantwortlichkeit wird in der Verwaltung noch kleiner geschrieben als in der Politik. Das in den Stein-Hardenbergschen Reformen der Jahre 1807–1815 entwickelte Verständnis des Beamtentums, das dem für Bürgerbeteiligung zugänglichen staatlichen Gemeinwesen verantwortlich war, wurde durch eine selbst-referenzielle Verwaltung und politikhörige Ministerialbürokratie abgelöst. Es ist eine Kultur der Unverantwortlichkeit gegenüber den Bürgern eingezogen, in der sichere Einkommen ohne entsprechende Leistung selbstverständlich und die Konsequenzen von Verwaltungshandlungen für die Bürger ohne Belang sind.

In einem bemerkenswerten Buch zieht der CDU-Politiker Carsten Linnemann den folgenden Schluss aus den Erfahrungen mit der Staatsbürokratie während der Pandemiejahre, die ihm Bürger geschildert haben: „Schuld waren immer andere – ob bei fehlenden digitalen Strukturen, ob bei den 2G- oder 3G-Regeln oder den fehlenden Luftreinigungsfiltern in den Schulen. Wenn etwas nicht funktionierte oder widersprüchlich war: Schuld trugen immer die anderen.“8 Vernichtender könnte das Urteil über die Verantwortlichkeit in der Verwaltung kaum ausfallen.

Die süße Droge der Unverantwortlichkeit

Der große Ökonom Joseph Schumpeter schrieb dem Kapitalismus die unbändige Kraft zur Schaffung des wirtschaftlichen Wohlstands zu. Er sah aber auch vorher, dass für die zu Wohlstand gelangte Gesellschaft diese Kraft zu anstrengend werden und sie nach einem Beschützer vor ihr rufen könnte: dem Staat.9 Ihm überträgt sie dann die Verantwortlichkeit für ihr Wohlergehen. Ludwig Erhard, der Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders, warnte, dass dieser Ruf nach dem Staat die Voraussetzungen auflösen würde, auf denen der Wohlstand beruhte.10

Da es Zeit braucht, bis der Verlust des Wohlstands nach Auflösung seiner Voraussetzungen für alle sichtbar und bedrückend wird, verhalten sich viele Menschen gemäß dem von Schumpeter beschriebenen Muster. Sie nehmen den Wohlstand für selbstverständlich, vergessen wie er geschaffen wurde, zerstören die für die Schaffung notwendigen Voraussetzungen und zehren ihn schlussendlich auf. Thomas Mann hat diesen Prozess in seinem grandiosen Erstlingswerk am Beispiel der fiktiven Familie Buddenbrook beschrieben.

Nach der Wiedervereinigung war Deutschland durch die Belastung aus der staatlichen Fürsorge für seine Neubürger wirtschaftlich geschwächt. Durch die von der Regierung Schröder im Jahr 2002 initiierte Politik der Agenda 2010 wurde diese Schwäche überwunden. Doch mit der Regierungsübernahme von Angela Merkel wurde die Rolle des Staates als Beschützer seiner Bürger wieder gestärkt. Es entstand ein „Allversicherungsstaat“, der versprach, die Bürger vor so gut wie allen Lebensrisiken zu schützen. Eigenverantwortlichkeit wurde zu Staatsverantwortlichkeit umgemünzt.

Im politischen Betrieb erhielt die Bundeskanzlerin den Spitznamen „Mutti Merkel“. War es eine Ironie der Geschichte, dass die im DDR-Sozialismus aufgewachsene Angela Merkel den Deutschen die süße Droge der Unverantwortlichkeit verabreichte?

Was tun?

Inzwischen hat den Allversicherungsstaat das Gesetz von Parkinson eingeholt: Aufgrund seiner Aufblähung ist er vor allem mit sich selbst beschäftigt und versagt beim Schutz seiner Mündel. Für den mündigen Bürger ist es höchste Zeit, selbst eine Kultur der Verantwortlichkeit zu pflegen und von anderen in der privaten Wirtschaft und im öffentlichen Bereich Verantwortlichkeit einzufordern. Nur wenn Druck zur Rückkehr zu ordnungspolitischem Denken in der Öffentlichkeit und Politik aufgebaut wird, kann der wirtschaftliche Abstieg und die Zerfaserung der Gesellschaft in Identitätsgruppen noch verhindert werden.

Carsten Linnemann schreibt dazu: „Die Verantwortlichkeiten müssen in Zukunft in den Koalitionsverträgen klar festgeschrieben werden…Denn am Ende der Periode muss jeder Bürger kontrollieren können, ob das wichtigste zukunftsweisende Projekt ungesetzt wurde oder nicht.“11 Aber warum soll das nur für Koalitionsverträge gelten? Ludwig Erhard geht weiter: „Konsumfreiheit und die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung müssen in dem Bewußtsein jedes Staatsbürgers als unantastbare Grundrechte empfunden werden. Gegen sie zu verstoßen, sollte als Attentat auf unsere Gesellschaftsordnung geahndet werden. Demokratie und freie Wirtschaft gehören logisch ebenso zusammen wie Diktatur und Staatswirtschaft.“12


1 OECD, World Economic Outlook Data Base, Daten für 2022.

2 https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/fileadmin/user_upload/RI/Studien/files/2022/221122-die-bilanzielle-ueberschuldung-des-dt-versicherungsstaats.pdf.

3 Auf ähnliche Art hat der ehemalige SS-Oberführer und NS-Staats- und Verwaltungsrechtler Reinhard Höhn auf der Grundlage militärischer Führungsgrundsätze in den 1950er-Jahren ein Managementmodell für Unternehmen entwickelt, das als „Harzburger Modell“ bekannt wurde. (https://de.wikipedia.org/wiki/Harzburger_Modell#:~:text=Das%20Harzburger%20Modell%20ist%20ein,war%20%E2%80%9EF%C3%BChrung%20durch%20Delegation%E2%80%9C.).

4 Jocko Willink and Leif Babin (2017). Extreme Ownership. St. Martin’s Press (New York).

5 https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/inhaberkontrollierte-unternehmen-robust-durch-die-letzte-dekade/.

6 Siehe dazu https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/der-schluessel-zu-skin-in-the-game/.

7 Pate standen dabei vermutlich auch die Schriften Herbert Marcuses, in denen der Autor die Unterwerfung des Menschen unter den spätkapitalistischen Produktionsapparat beklagt und nur noch gesellschaftliche Randgruppen in der Lage sieht, Utopien für eine bessere Welt zu entwickeln.

8 Carsten Linnemann (2022). „Die Ticken doch nicht richtig“. Herder (Freiburg, Basel, Wien).

9 Joseph Schumpeter (1942). Capitalism, Socialism and Democracy. Harper & Brothers (New York).

10 Ludwig Erhard (1957). Wohlstand für Alle. Econ Verlag (Düsseldorf).

11 Linnemann (2022), S. 151.

12 Erhard (1957), Kapitel 1, Die wirtschaftlichen Grundrechte (S. 23 der Ausgabe von 2009).

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