12.02.2021 - Kommentare

Das China-Dilemma - Oder wie geht man mit einem Systemgegner um?

von Norbert F. Tofall


I.

Nach dem Tod von Mao Zedong und der Entmachtung der sogenannten Viererbande um Jiang Qing1 war Ende der 1970er Jahre in China der Weg frei für die von Deng Xiaoping verfolgte „Reform und Öffnung“ und die „Vier Modernisierungen“ von 1. Landwirtschaft, 2. In­dustrie, 3. Wissen­schaft und Technik sowie 4. Militär.2 Obwohl auch die „Befreiung des Denkens“ proklamiert wurde, ließ die chinesische Partei- und Staatsführung keinen Zweifel daran aufkommen, daß sich die Reformen nicht auf den politisch-gesellschaftlichen Bereich erstrecken werden. Forderungen nach Demokratisierung und politischer Partizipation, die an der „Mauer der Demokratie“ als „fünfte Moderni­sie­rung“ gefordert wurden, wies Deng Xiaoping am 30. März 1979 mit seinen vier Grundprinzi­pien zu­rück. Festgehalten werde erstens am Marxismus-Leninismus und an den Mao-Zedong-Ideen, zweitens an der Diktatur des Proletariats, drittens am sozialistischen Weg und viertens an der Führungsrolle der Kommunistischen Partei Chinas.3

Dreizehn Jahre später äußerte sich Deng dazu in einer Rede wie folgt: „Historische Erfahrungen haben gezeigt, daß unsere politische Macht nur mit Diktatur zu konsolidieren ist. Eigentlich sollten wir unser Volk Demokratie genießen lassen. Um aber unseren Feinden überlegen zu sein, müssen wir Diktatur praktizie­ren – die demokratische Diktatur des Volkes.“4 Der jüngere Sohn von Deng Xiaoping, Deng Zhifang, drückte das mit Blick auf das Konzept „Glasnost und Perestroika“ von Michail Gor­batschow noch deutlicher aus: „Mein Vater denkt, Gorbatschow ist ein Idiot.“ Gor­batschow wollte erst das politische System in Russland ändern und anschließend die ökono­mischen Probleme lösen. Das sei eine verfehlte Politik. Denn Gorbatschow habe so nicht die politische Macht gehabt, die ökonomischen Probleme zu beheben. Er wurde vorher von der Macht ent­fernt.5

Obwohl China nicht nur seine ökonomischen Probleme von Ende der 1970er Jahre behoben hat, sondern im Laufe der folgenden Jahrzehnte zur neuen Supermacht aufgestiegen ist, die den USA und den gesamten Westen ökonomisch und politisch herausfordert, sind in China keine Anzeichen erkennbar, das chinesische „VolkDemokratie genießen (zu) lassen.“ Bereits 2013 schrieb der China-Experte Sebastian Heilmann, daß sich trotz verdeckter Fragilitäten6 an der führenden Rolle der KPCh und an ihrer Ablehnung von politisch-gesellschaftlicher Freiheit nicht viel geändert habe. Zur Modernisierung der Wirtschaft werden marktwirtschaftlich-kapitalistische Methoden genutzt. Individualismus und Interessenpluralismus werden aber von der chinesischen Führung bis heute nicht anerkannt. Diese seien weder mit der chinesischen Tradition noch mit dem Marxismus-Leninismus vereinbar.7 Tendenzen zur Pluralisierung und Konsultation sind auf Willensbildungsprozesse in den bestehenden Staats- und Parteistrukturen beschränkt. „Einen Aufbruch hin zur politischen Liberalisierung oder gar Demokratisierung Chinas werden wir auch unter der jüngst einberufenen neuen Parteiführung nicht sehen.“8 Und seit 2012 ist es der KPCh unter Führung von Xi Jinping durch Disziplinierung der politischen Elite, verstärkte Kontrolle über die Justiz und systematische Überwachung der Gesellschaft gelungen, Macht noch stärker zu zentralisieren. Selbst eine Trennung zwischen Staatsoberhaupt, Parteichef und Oberbefehlshaber der Armee existiert in China heute nicht mehr.

Anders als unter Deng Xiaoping wird diese systematische Repression nicht als zeitweise notwendiges Übel dargestellt, welches nach Überwindung der ökonomischen Not im eigenen Land zugunsten von politisch gesellschaftlicher Freiheit fallengelassen werden könnte. Vielmehr werden diese systematische Repression und die totalitäre Diktatur der KPCh als überlegendes Gesellschaftssystem bezeichnet und angepriesen, das nicht nur in China erhalten und ausgebaut, sondern global als (be-)herrschendes politisches System durchgesetzt werden soll. Deshalb ist der Konflikt zwischen China und den USA nicht nur ein Konflikt zwischen einer neuen aufstrebenden Supermacht und einer etablierten alten Hegemonialmacht. Der Konflikt zwischen China und den USA ist auch ein politischer Systemkonflikt. Dieser politische Systemkonflikt hat zur Zeit drei Dimensionen. Regional wird um die Vormacht im pazifisch-asiatischen Raum gerungen. Global wird um weltweiten Einfluß und um den Einfluß in internationalen Organisationen wie der WTO und den UN konkurriert. Und technologisch geht es um die globale High-Tech-Führerschaft. Darüber hinaus betrachten sich China und die USA gegenseitig als militärische Gegner.9

II.

Obwohl der ehemalige US-Präsident Donald Trump die chinesische Herausforderung erkannt hatte, sorgte Trump mit seiner Vorliebe, komplexe System durch Befehle und Anordnungen steuern zu wollen, und durch seine Omnipotenzphantasien, alles alleine und ohne Verbündete regeln zu können, dafür, daß China geradezu der Weg freigeräumt wurde, weltweit politisch und ökonomisch wachsenden Einfluß zu erlangen.10 Da der neugewählte US-Präsident Joe Biden zwar auch einerseits Chinas Macht begrenzen will, andererseits aber weiß, daß dies nur zusammen mit seinen westlichen und asiatisch-pazifischen Verbündeten gelingen wird, könnte jetzt sogar eine Situation entstehen, in welcher China aus purem Eigeninteresse gezwungen ist, das gleiche Recht für alle im Welthandel und in den internationalen Beziehungen anerkennen zu müssen. Chinas Macht, sich einen unverhältnismäßig großen Anteil an den aus dem Welthandel entstehenden Kooperationsgewinnen anzueignen, sinkt mit der Einigkeit und dem Willen der anderen Akteure, gemeinsam eine auf Recht und Freiheit basierende Welthandelsordnung aufzubauen.

Eine Renaissance der transatlantischen Beziehungen wird jedoch auch unter dem neuen US-Präsidenten Joe Biden nicht vom Himmel fallen. Biden hat in seiner ersten außenpolitischen Grundsatzrede11 zwar angekündigt, daß die USA ihre Bündnisse reparieren und sich wieder stärker in der Welt engagieren werden. Vor allem würden sich die USA den vorrückenden Autoritarismus entgegenstellen, insbesondere den wachsenden Ambitionen Chinas. Dazu müsse aber auch Europa einen Beitrag leisten. Biden sagte: „Wir können es nicht allein tun!“

Die USA würden sich aber zusammen mit ihren Partnern den Herausforderungen entgegenstellen, welche China für den Wohlstand, die Sicherheit und die demokratischen Werte darstelle. Die USA würden jedoch auch mit China zusammenarbeiten, wenn das im amerikanischen Interesse sei. Dabei habe nicht der Marktzugang für Goldman-Sachs in China Priorität, wie es Bidens Sicherheitsberater Sullivan ausdrückte, sondern die Frage, was Handelsverstöße durch China für den amerikanischen Arbeiter bedeuteten.

Die neue US-Regierung will also – zumindest vorerst – ebenso differenziert mit China umgehen wie die Europäische Union. Von einer vollständigen Entflechtung von China ist in Washington – anders als unter Trump – im Moment nicht die Rede.

Aber wie könnte ein derartiger differenzierter Umgang mit China aussehen, durch den einerseits eine neue Bipolarität und eine De-Globalisierung der Weltwirtschaft12 vermieden werden soll und durch den andererseits aber der politische Systemkonflikt mit China nicht verharmlost wird und Chinas Hegemonialstreben Grenzen gesetzt werden?

Die Stichworte für einen differenzierten Umgang mit China lauten: Kooperation, Wettbewerb und Abschottung:

  • Kooperation mit China in Bereichen wie Gesundheit und Pandemiebekämpfung, Klimapolitik, falls möglich Handelspolitik (bpsw. Reform der WTO) und Einhaltung der Menschenrechte,
  • Wettbewerb mit China im Handel
  • und Abschottung von China in allen Fragen der Sicherheitspolitik.

Dabei sollten nicht die Schwierigkeiten unterschätzt werden, die darin liegen, daß sich die USA und die EU über die konkreten Inhalte dieser drei Bereiche verständigen und einigen müssen. Denn es ist beispielsweise hochumstritten, ob der Netzwerkausrüster Huawei in den Bereich „Wettbewerb“ einzuordnen ist, wozu Teile der deutschen Bundesregierung neigen, oder in den Bereich „Sicherheitspolitik“.  Und wie reagiert man, wenn China die Lieferung von Corona-Impfstoff an politische Bedingungen knüpft? Hinzu kommt, daß sich China bei der Einhaltung der Menschrechte wenig kooperativ zeigen wird, anders als durch Dialog aber keine Verbesserung erreicht werden kann.

Es kommt also auf die USA und die EU in den nächsten Monaten viel Arbeit zu. Die gemeinsamen und konfligierenden Interessen hinsichtlich China müssen auf den Tisch, um eine gemeinsame China-Strategie zu entwickeln und um transatlantische Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Die Chancen für einen gemeinsamen und differenzierten Umgang mit China sind zur Zeit gegeben, so daß die Gefahren einer neuen Bipolarität und einer De-Globalisierung der Weltwirtschaft zurückgedrängt werden könnten. Gebannt ist diese Gefahr jedoch noch lange nicht.


1     In einer Politbürositzung am 3. Mai 1975 kritisierte Mao die radikalen Maoisten um Jiang Qing, die Deng und andere pragmatische Kräfte bekämpften. Mao ermahnte Jiang Qing, sie solle keine Viererbande bilden: „Don’t behave like a „Gang of Four“… You must unite and not split”; siehe Ezra F. Vogel: Deng Xiaoping and the Transformation of China, Cambridge and London (Harvard University Press) 2013, S. 117.

2    Vgl. Thoralf Klein: Geschichte Chinas. Von 1800 bis zur Gegenwart, 2., durchgesehene Auflage, Pader­born u.a. (Schöningh) 2009, S. 60.

3     Vgl. Thoralf Klein: a.a.O., S. 60-61 sowie Ezra F. Vogel: a.a.O., S. 262.

4   Siehe „Reform oder Untergang. Geheimdokument aus Peking: Chinas Altkommunist Deng Xiaoping rechtfer­tigt den Kapitalismus“, in: Der Spiegel vom 30. März 1992, Nr. 14, S. 178-179, hier S. 179. Online abrufbar unter: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13682701.html

5    Vgl. Ezra F. Vogel: a.a.O., S. 423.

6   Siehe Sebastian Heilmann: „Chinas fragiles Zentralnervensystem: Die KP als Organismus neuen Typs“, in: Internationale Politik, Januar/Februar 2013, S. 117 bis 123.

7   Vgl. Sebastian Heilmann: Das politische System der Volksrepublik China im Überblick, China Analysis No. 70, April 2009, S. 12. Als PDF-Dokument online abrufbar unter: www.chinapolitik.de/13.html.

8   Sebastian Heilmann: „Chinas fragiles Zentralnervensystem…“, a.a.O., S. 120.

9 Siehe Peter Rudolf: Der amerikanisch-chinesische Weltkonflikt, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 23, Berlin, Oktober 2019.

10 Siehe auch Norbert F. Tofall: Donald Trumps weltweiter Furor, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 27. April 2018, S. 8-9; online unter:  https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/donald-trumps-weltweiter-furor/

11 Siehe online: www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/02/04/remarks-by-president-biden-on-americas-place-in-the-world/

12 Siehe Norbert F. Tofall: De-Globalisierung und neue Bipolarität? Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 6. Dezember 2019; online unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/de-globalisierung-und-neue-bipolaritaet/

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