26.05.2020 - Kommentare
Schon lange vor der Corona-Krise wurde vielfach behauptet, daß China bald die neue Weltmacht Nummer 1 werden könnte, die USA hinter China zurückfallen würden und Europa und die Europäische Union geopolitisch vollkommen abgeschlagen seien werden. Und durch die weltweite Corona-Krise scheinen sich jetzt genau jene ökonomischen und politischen Prozesse zu beschleunigen, die diese Veränderungen der internationalen Beziehungen und der Weltwirtschaft bewirken und die Gefahr einer De-Globalisierung und neuen Bipolarität1 hervorrufen.
Aber werden diese beschleunigten ökonomischen und politischen Prozesse mit Notwendigkeit die vorausgesagten Veränderungen bewirken? Oder anders formuliert: Sind die „prophezeiten“ ökonomischen und politischen Entwicklungen aus heutiger Sicht unvermeidbar und unumkehrbar? Sollten Vermögensanlagestrategien deshalb auf diese angeblich unvermeidbaren Entwicklungen alternativlos ausgerichtet werden? Oder sind nicht vielmehr Vorsicht und Demut bezüglich der prophezeiten Entwicklungen angebracht und auf Vorsicht und Demut aufbauende robuste Anlagestrategien erfolgversprechender? Denn wenn mit Karl R. Popper davon ausgegangen wird, daß erstens der Ablauf der menschlichen Geschichte stark vom Wachstum des menschlichen Wissens beeinflußt wird, daß aber zweitens mit rational-wissenschaftlichen Methoden das zukünftige Anwachsen unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse und des menschlichen Wissens nicht vorhersagbar ist, dann können wir drittens den zukünftigen Verlauf der menschlichen Geschichte und der wirtschaftlichen Entwicklung nicht vorhersagen.2
Da insbesondere ökonomische Prozesse Wissensverarbeitungsprozesse darstellen und da politische Prozesse die Bedingungen maßgeblich gestalten, unter denen ökonomische Prozesse nicht vorhersagbares, individuell verteiltes und nicht zentralisierbares Wissen erfolgreich, weniger erfolgreich, mangelhaft oder ungenügend verarbeiten, ist einerseits die jeweilige institutionelle Ausgestaltung von Wirtschaft und Politik und andererseits das institutionelle Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik für die ökonomische Entwicklung entscheidet.
I.
Wie Wirtschaft und Politik zukünftig in China, den USA und in Europa gestaltet werden, ist mit erheblichen Unsicherheiten verbunden. Niemand kann mit Sicherheit voraussagen, wann sich in China der fundamentale Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Freiheit einerseits und politischer und gesellschaftlicher Unfreiheit andererseits systemerodierend entladen und die totalitäre Diktatur der Kommunistischen Partei Chinas sprengen wird. Aus dem Konflikt um die Macht in und die Autonomie von Hongkong läßt sich kein Timing für Gesamtchina ableiten. Aber eine jetzt durch neue Sicherheitsgesetze von Peking angestrebte und wohl gewaltsam durchsetzbare Friedhofsruhe in Hongkong bedeutet nicht, daß der fundamentale Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Freiheit einerseits und politischer und gesellschaftlicher Unfreiheit andererseits nicht früher oder später überall in China ausbrechen kann. Niemand kann mit Sicherheit sagen, wie lange die USA unabhängig vom Ausgang der Präsidentenwahlen im November an einer protektionistischen Politik festhalten werden. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, wie lange die Europäische Union ihren durch die Corona-Krise nochmals verschärften Kurs der schuldenfinanzierten Problemverschleppungen durchhalten wird.
Gemeinsam ist China, den USA und der Europäischen Union, daß seit der Finanzkrise von 2007/2008 versucht wurde, Wirtschaftswachstum durch Niedrigzinsen und schuldenfinanzierte staatliche Rettungsprogramme zu generieren. Überall wurden niedrige Zinsen und schuldenfinanzierte staatliche Rettungsprogramme als Heilmittel für Wachstum und Konjunktur angesehen. Ein nachhaltiger Investitionsboom war aber trotzdem nirgendwo zu erkennen; denn dazu notwendige Strukturanpassungen und schöpferische Zerstörungen wurden gerade nicht zugelassen. Stattdessen wurde die Zombifizierung von Banken und Unternehmen zugelassen und eine Japanisierung der Weltwirtschaft vorangetrieben.3Wirtschaft und Politik wurden sowohl in China als auch in den USA und Europa so gestaltet, daß der Zins und damit der wichtigste Preis jeder Volkswirtschaft seine wissensverarbeitende Funktion nicht mehr erfüllen konnte. Heute werden zur Bekämpfung der ökonomischen Folgen der Corona-Krise nun noch umfassendere Anleihekaufprogramme der Zentralbanken aufgelegt. Die Fed hat die Zinsen massiv gesenkt. Und die schuldenfinanzierten staatlichen Rettungs- und Konjunkturprogramme sind noch gigantischer als in der Finanzkrise, wobei sich China bei Konjunkturprogrammen anders als nach der Finanzkrise im Moment noch auffallend zurückhält.
Schon vor der Corona-Krise stellte der Internationale Währungsfonds in seinem Global Financial Stability Report vom 16. Oktober 2019 fest, daß die weltweit praktizierte lockere Geldpolitik zwar kurzfristig das Wirtschaftswachstum gestützt und Abwärtsrisiken begrenzt habe. Gleichzeitig habe die lockere Geldpolitik jedoch zu mehr „financial risk-taking“ und zum weiteren Aufbau von finanziellen Risikoschwachstellen (financial vulnerabilities) geführt, was mittelfristig das Wirtschaftswachstum gefährde.4 Das heißt mit anderen Worten, daß sich die Risiken für die Finanzstabilität bereits im Jahr vor der Corona-Krise abermals erhöht hatten und unser Finanzsystem noch fragiler geworden war. Denn bereits im Oktober 2018 stellte der IWF fest, daß die mittelfristigen Risiken für die Finanzstabilität nach wie vor hoch seien, daß die Verschuldung des nicht-finanziellen Sektors in Ländern mit systemisch relevanten Finanzsektoren ein Allzeithoch von 250 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt erreicht habe und daß die Verschuldung schneller gestiegen sei als das Wirtschaftswachstum.5 Und bereits im Oktober 2017 schrieb der IWF:
“Leverage in the nonfinancial sector has increased since 2006 in many G20 economies and easy financing conditions. While this has helped facilitate the recovery in aggregate demand, it has also made the nonfinancial sector more sensitive to changes in interest rates. Private sector debt service burdens have increased in several major economies as leverage has risen, despite declining borrowing costs. Debt servicing pressure could mount further if leverage continues to grow and could lead to greater credit risk in the financial system.”6
Zwei Jahre später zeigte der IWF in seinem Finanzstabilitätsbericht auf, daß der „debt servicing pressure“ nicht gesunken ist. Die drei Hauptrisiken des globalen Finanzsystems beständen erstens in steigenden Schuldenlasten der Unternehmen, zweitens in wachsenden Beständen von risikoreichen und mehr illiquiden Assets, die von institutionellen Investoren gehalten werden, sowie drittens in einer stärkeren Abhängigkeit der Schwellenländer von Auslandskrediten.7
Durch die zur Bewältigung der Corona-Krise ausgeweitete ultralockere Geldpolitik in China, den USA und Europa und die gigantischen schuldenfinanzierten staatlichen Rettungsprogramme dürften all diese Risiken jetzt nochmals erheblich gestiegen sein. Die Verschuldung dürfte weltweit neue Höchststände erreichen.
II.
Damit die neuen Rekord-Schulden zur Bewältigung der Corona-Krise halbwegs getragen werden können, müssen die Zinsen auf absehbare Zeit und ceteris paribus – d.h. wenn Entschuldungen und Währungsreformen ausbleiben – für immer durch die Zentralbanken und d.h. durch den Staat niedrig gehalten werden. Ohne einen frei sich auf dem Markt bildenden Zins wird die Marktwirtschaft jedoch auch in den USA und Europa immer mehr ausgehebelt. Die Finanzrepression der letzten Jahre wird enorm ausgebaut werden. Zum Zwecke eines systemerhaltenen Schuldenmanagements werden Wirtschaft und Politik sowohl in China als auch in den USA und Europa immer mehr auf Strukturerhaltung und Status-Quo-Sicherung ausgerichtet. Man läßt sowohl in China als auch in den USA und Europa den Markt seine Arbeit verrichten, wenn es ökonomisch bergauf geht. Der Markt wird jedoch systematisch ausgeschaltet, wenn es ökonomisch bergab geht. Die wichtigste Aufgabe des Marktes, ökonomische Bereinigungen durchzuführen, wird verhindert.
Beispielsweise dürfen in China die Immobilienpreise einfach nicht einbrechen, weil die schuldenfinanzierte Immobilienfinanzierung für Abermillionen Chinesen auf steigende Immobilienpreise ausgerichtet ist und bei sinkenden Immobilienpreisen zusammenbrechen dürfte. Durch eine Unterdrückung von Volatilität, ökonomischen Anpassungen und „schöpferischer Zerstörung“ werden jedoch überall auf der Welt und auch in China nur die sichtbaren Anzeichen für Risiken ausgeschaltet, nicht jedoch die Risiken als solche vermindert. Im Gegenteil: Unter der Oberfläche akkumulieren sich die stillen Risiken immer weiter und erhöhen die Fragilität des Wirtschafts- und Finanzsystems. In China hat die totalitäre Einparteien-Diktatur anders als in den USA und Europa jedoch weitreichende Möglichkeiten der „sozialen Kontrolle“, um bereits potentielle schlechte Nachrichten oder Analysen, welche beispielsweise die Höhe der Immobilienpreise hinterfragen, verbieten und unterdrücken zu können, so daß ein Prozeß der öffentlichen und kritischen Hinterfragung des Verhältnisses von Angebot und Nachfrage von vornherein torpediert wird.
Daß eine derartige Unterdrückung von schlechten Nachrichten qua staatlicher Repression oftmals fatale ökonomische Folgen zeitigt, zeigt sich heute in der Corona-Krise. Ärzte, die in China bereits im Herbst auf die Ausbreitung einer neuen Lungenkrankheit und auf ein mögliches neues Corona-Virus hingewiesen haben, wurden durch staatliche Repression mundtot gemacht und gegebenenfalls aus dem Verkehr gezogen. Diese systematische staatliche Unterdrückung von schlechten Nachrichten in China hat letztlich eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst. Erst als die Ausbreitung des neuen Corona-Virus nicht mehr zu leugnen war, vollzog die chinesische Führung eine 180-Grad-Wende.
Die totalitäre Einparteien-Diktatur Chinas ist jedoch aufgrund ihres totalitären Repressionsapparates in der Lage, selbst diesen Zusammenhang zu vernebeln und den Massen nicht nur in China vorzuspiegeln, daß China bei der Bekämpfung des Corona-Virus erfolgreicher sei als der dekadente Westen und daß das chinesische System dem westlichen überlegen sei. Das mag bezüglich der eigentlichen Bekämpfung des Corona-Virus wegen der fast unbegrenzten Möglichkeiten eines totalitären Repressionsapparates sogar stimmen. Aber gerade deshalb kann gar nicht häufig genug wiederholt werden: Die systematische Unterdrückung von schlechten Nachrichten qua staatlicher Repression in China hat eine Weltwirtschaftskrise ausgelöst. Durch die systematische Unterdrückung von schlechten Nachrichten wurden die gesundheitlichen und in deren Folge die ökonomischen Risiken nicht vermindert, sondern nur deren Sichtbarwerdung unterdrückt und ihre rechtzeitige Bekämpfung verhindert.
Wer ernsthaft behauptet, daß sich dies nicht in anderen Bereichen wie beispielsweise dem Immobilienmarkt wiederholen kann, scheint bereits ein Opfer der chinesischen Propaganda geworden zu sein. Der Widerspruch zwischen wirtschaftlicher Freiheit einerseits und politischer und gesellschaftlicher Unfreiheit andererseits hat global höchst reale praktische negative ökonomische Folgen erzeugt. Das chinesische System hat diese globalen ökonomischen Kosten verursacht, wobei zugestanden werden kann, daß dies ohne Absicht geschehen ist. Es wird hier mitnichten behauptet, daß die chinesische Führung das Corona-Virus absichtlich in die Welt gesetzt hätte, um dem Westen ökonomisch zu schaden. Die Ursache für die durch Unterdrückung schlechter Nachrichten ausgelöste Weltwirtschaftskrise ist primär keine persönliche, sondern eine systemische. Aber gerade deshalb ist es vollkommen abwegig, von einer Überlegenheit des chinesischen Systems zu sprechen.
III.
Das heißt jedoch nicht, daß die USA und Europa das eigene Wirtschafts- und Gesellschaftssystem derzeit erfolgreich verteidigen würden oder gar die Auseinandersetzung mit China auch nur annähernd bestanden hätten. Die westlichen Gesellschaften scheinen sogar die freiheitlichen Grundlagen der eigenen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aus den Augen verloren zu haben (westlessness) und damit den Kompaß und die Blaupause für gemeinsame Problemlösungen. Anstatt daß der Westen auf die chinesische Herausforderung geschlossen und durchdacht mit dem Aufbau von Gegenmacht antwortet, so daß China mehr und mehr in eine Lage gedrängt wird, das gleiche Recht für alle im Welthandel und in den internationalen Beziehungen anerkennen zu müssen, meint US-Präsident Donald Trump, daß er China ganz alleine und ohne Europa in die Knie zwingen könnte. Trumps Schutzzoll Furor ist darüber hinaus auch gegen die EU gerichtet. Im Ergebnis führt diese Politik zu einem Zerfall von Gegenmachtpotential. Denn unabhängig davon, daß Trump durch Schutzzölle die ökonomischen Probleme der US-amerikanischen Volkswirtschaft nicht lösen, sondern weiter verschleppen wird, hat Trump durch die Aussetzung der TTIP-Verhandlungen zwischen den USA und Europa und der Nichtunterzeichnung des pazifischen Freihandelsabkommens der Volksrepublik China geradezu den Weg freigeräumt, um geopolitisch immer weiteren Raum und Gewicht gewinnen zu können. TTIP und TPP wären jedoch wirksame geopolitische Maßnahmen zum Aufbau von Gegenmacht gegen China gewesen. Leider scheint in den transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa zur Zeit der politische Wille zu fehlen, eine gemeinsame Gegenmacht des Westens aufzubauen. Ohne eine gemeinsame Gegenmacht des Westens dürften jedoch weder die chinesische Herausforderung noch andere Probleme der internationalen Beziehungen zu lösen sein. Alle US-Präsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg hätten sich in einer Pandemie wie der Corona-Krise ohne Zögern sofort an die Spitze des Westens gestellt, damit die westlichen Gesellschaften unter Führung der USA die globalen Herausforderungen dieser Krise gemeinsam zum gegenseitigen Vorteil bewältigen. Nicht so Donald Trump.
Da aber nicht nur US-Präsident Donald Trump, sondern auch große Teile der Demokratischen Partei in den USA die amerikanische Wirtschaft durch protektionistische Maßnahmen schützen, den Aufstieg Chinas verhindern und die US-Technologieführerschaft gegenüber China bewahren wollen, könnte sich in den USA auf breiter politischen Front und unabhängig vom Ausgang der Wahlen im November 2020 die Option für die gezielte ökonomische Entflechtung von China verfestigen. Bereits vor der Corona-Krise war unverkennbar, daß die technologische Basis der USA nicht nur durch ein verstärktes Vorgehen gegen chinesische Industriespionage geschützt werden soll. Darüber hinaus werden chinesische Investitionen in den USA vom Committee on Foreign Investment überprüft und zusehends beschränkt, wobei der Foreign Investment Risk Review Modernization Act aus dem Jahr 2018 die Überprüfung vor allem auf kritische Technologien ausgeweitet hat. Zudem werden Maßnahmen ergriffen, um technologische Innovationen in China gezielt zu verlangsamen, was insbesondere bedeutet, daß wirtschaftliche Transaktionen mit chinesischen Firmen gezielt eingeschränkt und Exportkontrollen verschärft werden. Durch den Export Control Reform Act wurden Ausfuhrbeschränkungen für neu entwickelte und innovative Technologien in Kraft gesetzt, die von den bisherigen Kontrollen nicht erfaßt worden sind. Auch soll der Wissenstransfer durch chinesische Studenten und Wissenschaftler, die in den USA in sensiblen Forschungsbereichen tätig sind, reduziert werden, indem die Vergabe von Visa eingeschränkt und die Vergabe von Visa an chinesische Wissenschaftler mit Beziehungen zu chinesischen Nachrichtendiensten verweigert wird.8
Bereits jetzt dürfte China allein aufgrund der bereits von den USA ergriffenen Maßnahmen ein großes Interesse haben, technologische und ökonomische Abhängigkeiten weiter zu verringern, so daß auch China die ökonomische Entflechtung seines Einflußbereiches vom Einflußbereich der USA anstreben und forcieren könnte. Die De-Globalisierung der Weltwirtschaft und die Herausbildung von zwei begrenzten Ordnungen könnten die Folge sein. Die jeweiligen Verbündeten der beiden Pole würden im Zuge einer solchen Entwicklung vermutlich gezwungen werden, ihrerseits die ökonomische Verflechtung mit dem anderen Pol und seiner Verbündeten aufzugeben.
Wie die Auseinandersetzung um das Atomabkommen mit dem Iran beispielhaft zeigt, verstehen es die USA, mit Hilfe ihres bestehenden Exportkontrollsystem und ihrer Sanktionsgesetze europäische Firmen vom Handel mit dem Iran abzuhalten. Sollten europäische Firmen über diese Hebel gezwungen werden, sich entweder für den US-amerikanischen oder für den chinesischen Markt zu entscheiden, hätte dieses für europäische Firmen, die in beiden Märkten präsent sind oder sogar ihre Wertschöpfungsketten über beide Märkte verbunden organisiert haben, gravierende Folgen. Allein diese Gefahr dürfte der Grund dafür sein, daß bereits heute europäische Firmen ihre Produktionskapazitäten in China zurückfahren und sich aus China zurückziehen.
Die Europäische Union kann sich aufgrund der heutigen weltwirtschaftlichen Verflechtung und der Struktur globaler Märkte nicht vom mit geoökonomischen Mitteln geführten geopolitischen Konflikt zwischen China und den USA abkoppeln. In ihrer derzeitigen ökonomischen und politischen Verfassung kann die Europäische Union den amerikanisch-chinesischen Konflikt aber auch nicht entscheidend beeinflussen.9 Und schon jetzt ist absehbar, daß China mit dem Projekt der Neuen Seidenstraße einen Teil der südlichen EU-Länder von sich abhängig machen und dadurch in sein Lager ziehen will.
Andererseits ergibt sich aus der heutigen geopolitischen und geoökonomischen Lage für die Europäische Union durchaus eine strategische Option, die es der EU ermöglichen könnte, im geopolitischen und geoökonomischen Kampf der Weltmächte zu bestehen: Die wirtschafts- und geldpolitischen Problemverschleppungen der letzten 10 Jahre werden beendet. Schmerzhafte ökonomische Bereinigungsprozesse werden zugelassen. Der Euro wird nicht länger zur monetären Staatsfinanzierung mißbraucht. Die EU läßt sowohl innerhalb der EU als auch in ihren Außenbeziehung die Handlungslogik des Marktes wirken, so daß wieder Wohlstand für alle entstehen kann. Oder kurz: Die EU handelt auf allen Ebenen konsequent nach den Prinzipien von Marktwirtschaft und Freihandel.10
IV.
Diese strategische Option für die Europäische Union hat jedoch nur dann eine Chance von den EU-Regierungen aufgegriffen zu werden, wenn vorab die Eurozone entschuldet wird.11 Und nur wenn die Eurozone nach der Corona-Krise entschuldet wird, ist in Europa ein frei sich auf dem Markt bildender Zins politisch wieder möglich. Die Zombifizierung von Banken und Unternehmen könnte beendet und neue Wachstums- und Investitionspotentiale könnten erschlossen werden. Ohne einen frei sich auf dem Markt bildenden Zins wird die Marktwirtschaft jedoch in immer mehr Bereichen der Wirtschaft ausgehebelt werden und zur politisch gelenkten Staatswirtschaft verkommen. Eigentumsrechte werden mehr und mehr eingeschränkt und staatlich reguliert werden, so daß von Eigentum an den Produktionsmitteln immer weniger die Rede sein kann. Die Finanzrepression der letzten Jahre wird enorm ausgebaut werden. Die Europäische Union wird aufgrund der aus all dem folgenden ökonomischen Schwäche im geopolitischen Kampf zwischen China und den USA zerrieben werden. Bereits im ihrem heutigen ökonomischen Zustand kann die EU den geopolitischen Konflikt zwischen China und den USA nicht nennenswert beeinflussen. Die Entschuldung der Eurozone und die daraus folgende ökonomische Gesundung könnten das ändern.
Da die schrittweise Entschuldung der Eurozone, wie sie durch die Regeln des europäischen Fiskalpaktes angestrebt wurde, bereits vor der Corona-Krise gescheitert war, wird nach der Corona-Krise nur eine Entschuldung der Eurozone in einem einzigen Schritt erfolgreich sein. Dieser eine Schritt sollte aus drei gleichzeitig umzusetzenden Elementen bestehen. Dem sogenannten Chicago-Plan von 1933 folgend12 sollte die EZB erstens die Staatsschulden der Euroländer auf ihre Bilanz nehmen und zweitens den Bürgern der Eurozone sichere Bankeinlagen durch Volldeckung mit Zentralbankgeld ermöglichen sowie einen digitalen Euro als Vollgeld schaffen,13 durch den politische Manipulationen des Zinses erschwert werden. Darüber hinaus muß drittens durch die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen14 „marktwirtschaftlicher Abwanderungsdruck“ auf- und ausgebaut werden, welcher den Euro durch die praktische Möglichkeit, aus ihm abzuwandern, stabilisiert.15
Wenn man bedenkt, daß sich die EZB mit ihren Anleihekaufprogrammen de facto bereits seit längerem auf dem Weg befindet, die Staatsschulden der Euroländer auf ihre Bilanz zu nehmen, dann erscheint die skizzierte Vorgehensweise alles andere als utopisch. Die anderen Elemente der skizzierten Vorgehensweise dienen zur Absicherung, daß der Übergang zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung eingeleitet wird und daß nach dem einmaligen Schritt der Entschuldung der Eurozone das bisherige Spiel nicht erneut beginnt. Durch die Schaffung einer sicheren Bankeinlage können Banken wie alle anderen Unternehmen in einer Marktwirtschaft auch, in Konkurs gehen, weil die durch 100 Prozent Zentralbankgeld gedeckte sichere Einlage bei einer Bankenpleite nicht untergeht. Der Kunde muß der Abwicklungsbehörde lediglich den Namen einer anderen Bank mitteilen, zu der die sichere Einlage transferiert wird. Ein digitaler Vollgeldeuro dient dazu, daß die Geldmenge mittels einer in einem Algorithmus niedergelegten Regel – beispielsweise dem Potentialwachstum in Sinne von Milton Friedman – ausgeweitet wird und nicht aufgrund politischer Opportunitäten. Und die Zulassung von konkurrierenden Privatwährungen wie Kryptowährungen ermöglicht zum einen eine flexible Gesamtgeldmenge, verhindert aber zum anderen als marktwirtschaftliche Schuldenbremse, daß der Euro zielgerichtet lirarisiert werden kann, weil die Bürger bei einer weiteren Lirarisierung des Euro aus ihm abwandern können.
Eine Entschuldung der Eurozone nach der Corona-Krise würde die ökonomische Gesundung der Eurozone und der gesamten EU befördern, so daß die EU in den transatlantischen Beziehungen zu den USA Gewicht gewinnen würde. Eine Allianz zwischen den USA und der EU zum Aufbau von Gegenmacht gegen China, um China zur Einhaltung des gleichen Rechts für alle im Welthandel und in den internationalen Beziehungen zu zwingen, wäre für die USA dann attraktiv. Zudem könnte durch eine Entschuldung der Eurozone nach der Corona-Krise ein heilsamer Zwang zur Nachahmung in den USA ausgelöst werden.
Spätestens dann dürfte fraglich sein, ob China wirklich die neue Weltmacht Nummer 1 werden wird, ob die USA hinter China zurückfallen und ob Europa und die EU geopolitisch vollkommen abgeschlagen sein werden. Die Überwindung der „westlessness“ und die gemeinsame Verteidigung der freiheitlichen Grundlagen der westlichen Gesellschaften könnte jedoch auf jeden Fall wirksam über eine Entschuldung nach der Corona-Krise befördert werden. Die westlichen Regierungen müssen sich allerdings trauen, die selbstgebaute Schuldenfalle zu zerstören. Die Aussicht, durch eine Entschuldung nach der Corona-Krise Handlungs- und Wettbewerbsfähigkeit zurückzuerlangen, sollte dafür Anreiz genug sein.
1 Siehe Norbert F. Tofall: De-Globalisierung und neue Bipolarität? Wohin führt die strategische Rivalität zwischen China und den USA?, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 6. Dezember 2019, online abrufbar unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/de-globalisierung-und-neue-bipolaritaet/
2 Vgl. Karl R. Popper: Das Elend des Historizismus, 4. Auflage, unveränderter Nachdruck der 3., verbesserten Auflage, Tübingen (Mohr) 1974, S. XI.
3 Siehe Norbert F. Tofall: „Wer gewinnt bei einer Japanisierung der Weltwirtschaft? Die Nullzinspolitik führt zur Zombifizierung”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2. November 2015, Nr. 254, S. 20 sowie mit dem Fokus auf Deutschland Alexander Horn: Die Zombiewirtschaft. Warum die Politik Innovationen behindert und die Unternehmen in Deutschland zu Wohlstandsbremsen geworden sind, mit Beiträgen von Michael von Prollius und Phil Mullan, NOVO Band 129, Frankfurt am Main (NOVO Argumente) 2020.
4 Siehe International Monetary Fund: Global Financial Stability Report October 2019: Lower for longer, p. viii.
5 Vgl. International Monetary Fund: Global Financial Stability Report October 2018: A Decade after the Global Financial Crisis: Are we Safer?. p. viii.
6Global Financial Stability ReportOctober 2017, p. 32.
7 Siehe International Monetary Fund: Global Financial Stability Report October 2019: Lower for longer, p. ix.
8 Vgl. Peter Rudolf: Der amerikanisch-chinesische Weltkonflikt, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 23, Berlin, Oktober 2019, S. 30 – 31.
9 Siehe Norbert F. Tofall: Zur ökonomischen und politischen Lage der Europäischen Union, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 30. Juli 2019, S. 3 – 4; online abrufbar unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/zur-oekonomischen-und-politischen-lage-der-europaeischen-union/
10 Ebenda, S. 11.
11 Siehe Norbert F. Tofall: Entschuldung nach der Corona-Krise. Ohne Entschuldung der Eurozone wird die EU nicht überleben - Teil 1, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 8. April 2020; online abrufbar unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/entschuldung-nach-der-corona-krise/
12 Siehe Irving Fisher: 100% Money and the Public Debt, Economic Forum April-June 1936, pp. 406-420 sowie Jaromir Benes and Michael Kumhof: The Chicago Plan Revisted, IMF-Working Paper, WP/12/202, August 2012. Zu den Befürwortern einer 100-Prozent-Reservepflicht für Geschäftsbanken gehörte neben Irving Fisher auch Milton Friedman, siehe Milton Friedman: A Program for Monetary Stability, Band 3: The Millar Lectures, New York (Fordham University Press) 1961.
13 Siehe Thomas Mayer: Ein digitaler Euro zur Rettung der EWU, Studie des Flossbach von Storch Research Institute vom 24. Oktober 2019, online abrufbar unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/ein-digitaler-euro-zur-rettung-der-ewu/
14 Siehe Friedrich A. von Hayek: Entnationalisierung des Geldes. Eine Analyse der Theorie und Praxis konkurrierender Umlaufmittel, Tübingen (Mohr) 1977
15 Siehe bereits Frank Schäffler und Norbert F. Tofall: „Euro-Stabilität durch konkurrierende Privatwährungen“, in: Dirk Meyer (Hg.): Die Zukunft der Währungsunion. Chancen und Risiken des Euros, mit Beiträgen von Helmut Schmidt, Václav Klaus, Arnulf Baring, Roland Vaubel, Wolf Schäfer, Hans-Olaf Henkel, Charles B. Blankart und anderen, Berlin (LIT) 2012, S. 275 – 288 sowie Norbert F. Tofall: Währungsverfassungsfragen sind Freiheitsfragen. Mit Kryptowährungen zu einer marktwirtschaftlichen Geldordnung?, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 15. Januar 2018, online abrufbar unter: https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/waehrungsverfassungsfragen-sind-freiheitsfragen/
08.04.2020 - Wirtschaft & Politik
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