10.07.2024 - Kommentare

Wege zur eigenverantwortlichen finanziellen Vorsorge

von Marius Kleinheyer


Der Marshmallow – Test wurde Anfang der 1970er Jahre mit vier Jahre alten Kindern durchgeführt. Ein Kind saß an einem Tisch und sah vor sich auf dem Teller ein Marshmallow. Der Versuchsleiter teilte dem Kind mit, dass er für einige Zeit den Raum verlassen würde und mit einer Glocke jederzeit zurückgerufen werden könne. Als Belohnung bekam das Kind bei Betätigen der Glocke das Marshmallow. Wartete das Kind aber ab, bis der Versuchsleiter von selbst zurückkehrt, in dem Experiment nach 15 Minuten, bekam das Kind eine Belohnung von zwei Marshmallows versprochen (Mischel, 2015).

Mit diesem Test wurde die Fähigkeit zur Impulskontrolle gemessen. Etwa 30 % der Kinder schafften es, die ganzen 15 Minuten auszuhalten. 25 % griffen in weniger als einer Minute zur Glocke (Aeberhand 2020). In Nachbeobachtungen Anfang der 1980er Jahre fand Mischel heraus, dass diejenigen Kinder, die den Belohnungsaufschub aushielten, später auch größeren Erfolg hatten. Sie hatten in der Schule bessere Noten und harmonischere Beziehungen. Vermutlich haben sie auch rechtzeitig angefangen, für ihr Alter finanziell vorzusorgen.

Die Altersvorsorge ist der „XXL - Marshmallow-Test“ im echten Leben mit erheblichen Auswirkungen auf die Lebensqualität älterer Menschen und auf die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt. Viele Menschen sind nicht besonders gut darin, langfristige finanzielle Entscheidungen zu treffen und diese dann konsequent durchzuhalten. Die ökonomische Theorie kennt das Problem der hyperbolischen Diskontierung (Laibson 1998). Obwohl das häufig in der Ökonomie angenommen wird, diskontieren die meisten Menschen die Zukunft nicht linear mit einem konstanten Diskontfaktor. Hyperbolische Diskontierung bedeutet, dass im intertemporalen Vergleich ein Nutzen zwischen heute und morgen stärker diskontiert wird als zwischen morgen und übermorgen. Im Klartext: Positive Ereignisse werden überproportional in die Gegenwart geholt, negative Ereignisse möglichst lange herausgezögert oder gar nicht unternommen. (Laibson 1998). Die kurzfristige Belohnung wird dem langfristig als richtig erkannten Verhalten vorgezogen. Unzählige nicht eingehaltene Neujahrsvorsätze und Diäten geben anschauliche Beispiele. Verhaltensökonomen betrachten diese zeitliche Inkonsistenz, ausgelöst durch hyperbolische Diskontierung als Irrationalität, die Ineffizienzen verursacht. Insbesondere bei der Altersvorsorge lassen sich mit dieser Diagnose kostspielige und paternalistische, den Bürger bevormundende Eingriffe begründen. Angefangen von dem „Pay-as-you-go“ – System der gesetzlichen Rente über die rechtliche Ausgestaltung der betrieblichen Rente bis hin zu der hohen Regulierungsdichte für private Finanzanlagen, der Staat bringt seinen Bürgern ein grundsätzliches Misstrauen entgegen, selbst finanziell vorsorgen zu können. Eine britische Rentenkommission brachte es wie folgt zum Ausdruck:

“Most people do not make rational decisions about long-term savings without encouragement and advice. But the cost of advice, and of regulating to ensure that it is good advice, in itself significantly reduces the return on saving, particularly for low earners.” (UK Pensions Commission 2004)

Dabei stellt die staatliche Bevormundung selbst eine zusätzliche Ursache für hyperbolische Diskontierung dar. Wenn sich der Staat um die Altersvorsorge kümmert, muss sich der Einzelne selbst weniger Gedanken darüber machen. Aufgrund der demografischen Entwicklung kommt das bisherige staatlich gelenkte System der Alterssicherung jedoch an seine Leistungsgrenze. Notgedrungen bekommt die private Altersvorsorge in Zukunft eine größere Bedeutung. Aus dieser Not könnte eine Tugend entstehen.

Verhaltensökonomen und Psychologen haben nicht nur hyperbolische Diskontierung diagnostiziert, sie haben auch Vorschläge erarbeitet, was man dagegen tun könnte. Der gängigste Vorschlag ist die freiwillige Selbstbindung. Um zum Beispiel nicht jeden Monat selbst entscheiden zu müssen, was man für später zurücklegt, sollen die Menschen ein Sparplan vereinbaren, der das Geld einzieht, bevor es für den Konsum ausgegeben werden kann. (Thaler und Benartzi, 2004).

Ein zweiter Vorschlag zielt auf die Freude über zukünftige Belohnungen. Man könnte sich zum Beispiel konkret vorstellen, wie man seinen Ruhestand mit einem bequemen finanziellen Polster oder in seinen eigenen vier Wänden verbringt. Diese Vorstellung motiviert zu größeren Sparanstrengungen in der Gegenwart (Nenkov, Inman und Hulland, 2009).

Ein dritter Vorschlag ist noch weniger bekannt, könnte aber für viele Menschen ein wirkungsvoller Weg sein, mehr für das Alter vorzusorgen. Aus den Neurowissenschaften ist bekannt, dass Menschen in erster Linie mit den Augen zielen (Balectis 2021). Augen und Gehirn sind eng miteinander verknüpft. Visuelle Wahrnehmung und Motivation haben einen unmittelbaren Einfluss aufeinander. Zum Beispiel erreichen Athleten, die sich in einem Rennen auf ein visuelles Ziel fokussieren, nicht nur eher die Ziellinie, sondern nehmen die Anstrengung auch weniger intensiv wahr (Balcetis, 2021). Diese Erkenntnis deckt sich mit dem „Goal-Gradient-Effekt“. Je näher sich ein Mensch einem Ziel befindet, desto größer werden seine Anstrengungen. Die Motivation ist abhängig von der wahrgenommenen Distanz. Der amerikanische Psychologe Hal Hershfield hat deshalb vorgeschlagen, das Verfehlen langfristiger finanzieller Ziele als ein Mangel an wortwörtlicher Sichtbarkeit der eigenen Zukunft zu verstehen.

In seinem Experiment (Hershfield, 2011) konfrontierte er die Teilnehmer mittels einer aufwendigen Computersimulation entweder mit sich selbst oder mit einem dreißig Jahre gealterten Avatar von sich selbst in einer virtuellen Realität. Diejenigen, die ihr „zukünftiges Ich“ getroffen haben, waren anschließend deutlich bereiter, für die Zukunft zu sparen, als die Kontrollgruppe.

In einem zweiten Experiment wurden Studenten in einem Kurs über Finanzwissen über die Dauer des Kurses immer wieder regelmäßig mit den gealterten Avataren konfrontiert. Auch hier zeigte sich, dass diejenigen Teilnehmer, die sich alt sahen, mehr sparten. Studenten, die mit ihrem „zukünftigen Ich“ interagierten, schnitten erfolgreicher in den Tests über das Finanzwissen ab (Sims, Bailenson und Carstensen, 2015). Nicht nur die Sparanstrengung, sondern auch das Interesse, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen nahm zu.

Während der erste und zweite Vorschlag längst Eingang in die Praxis gefunden haben, könnte die Erkenntnis von Hershfield in der Finanzberatung noch stärker genutzt werden. Wenn der Kern des Problems der hyperbolischen Diskontierung in der mangelnden Beziehung zum „zukünftigen Ich“ Liegt, dann kann mit Hilfe von Visualisierung diese Zeitspanne überbrückt werden. Zwar ist das Experimentumfeld des Labors nicht einfach zu reproduzieren, aber die technologische Entwicklung verspricht Abhilfe. Im Zuge der rasanten Entwicklung von KI und Virtual Reality werden die Hürden, um sich mit seinem „zukünftigen Ich“ zu treffen immer niedriger. Im Zweifel reicht ein kurzer Ausflug in den App-Store, um sich ein dreißig Jahre gealtertes Selbstportrait generieren zu lassen. Ein gezielter Einsatz in der Anlageberatung könnte die Aufmerksamkeit für die Altersvorsorge erhöhen. In den USA hat ein Finanzdienstleister die Visualisierung des „zukünftigen Ichs“ bereits für einen Fernseh-Werbespot genutzt.1 Darin begegnet im Flugzeug ein Passagier seinem älteren Ich, das ihm rät, das Thema finanzielle Vorsorge richtig anzugehen.

Es wird immer Menschen geben, die das Marshmallow sofort haben wollen. Und es wird immer auch Menschen geben, die nicht ausreichend finanziell vorsorgen. Für diese Menschen gibt es Möglichkeiten, ihre hohe Zeitpräferenz zu umgehen. Da es in Zukunft mehr auf die Eigenverantwortung in der Altersvorsorge ankommen wird, gewinnen Methoden, die eine größere Sparanstrengung bewirken, an Bedeutung. Verhaltensökonomen und Psychologen haben verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, wie Menschen jenseits staatlicher Bevormundung gegen ihre irrationalen Impulse angehen können. Ein innovativer Ansatz ist die Visualisierung des „zukünftigen gealterten Ichs“.


Literatur

Aeberhand, Pia (2020) Wer warten kann hat´s drauf? Inwiefern Marshmallows als Indikator für unseren Erfolg dienen. Hochschule Luzern, URL: https://hub.hslu.ch/business-psychology/marshmallow-experiment-1/

(zuletzt abgerufen am 03.07.2024).

Balcetis, Emily (2021) Clearer, Closer, Better – How Successful People See the World, New York: Penguin Random House.

Hershfield, Hal, et al. (2011) Increasing saving behavior through renderings of future self. Journal of Marketing Research, 48, S. 23-37.

Laibson, David, et al. (1998) Self-Control and Saving for Retirement, Brookings Papers on Economic Activity, 1, S. 91-196.

Mischel. Walter (2015) Der Marshmallow-Test: Willensstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit, München: Siedler Verlag.

Nenkov G., Inman J., Hulland J. (2008) Considering the future: The conceptualization and measurement of elaboration on potential outcomes. Journal of Consumer Research, 35, S. 126–141.

Sims, T., Bailenson, J., Carstensen L.L. (2015) Connecting to your future self: Enhancing financial planning among diverse communities using virtual technologies. The Gerontologist, 55, S. 311 – 330.

Thaler, R., Benartzi, S. (2004) Save More Tomorrow (TM): Using behavioral economics to increase employee saving. Journal of Political Economy, 112(1), S. 164– 187.

UK Pensions Commission (2004) Pensions: Challenges and Choices - The First Report of the Pensions Commission, URL: https://image.guardian.co.uk/sys-files/Money/documents/2005/05/17/fullreport.pdf

(zuletzt abgerufen am 03.07.2024).


1 Siehe: https://www.youtube.com/watch?v=i34XRMIm9N0