15.03.2024 - Kommentare

Streikrecht, Macht und Wettbewerb

von Norbert F. Tofall


Ein Streik ist die Niederlegung der Arbeit durch eine Gruppe von Arbeitnehmern, um ein gemeinsames Ziel im Rahmen des Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisses zu erreichen. Die kollektive Niederlegung der Arbeit verletzt in Deutschland dann nicht die arbeitsvertraglich geschuldete Arbeitspflicht, wenn sie im Rahmen des kollektiven Arbeitsrechts erfolgt. Die im Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland garantierte Koalitionsfreiheit und die in diesem Zusammenhang genannten Arbeitskämpfe bedeuten nicht, daß für jeden beliebigen Zweck gestreikt werden darf, sondern versteht sich immer in Bezug auf die Tarifautonomie und damit auf das Arbeitsverhältnis. Eine Niederlegung der Arbeit, um beispielsweise allgemeine Forderungen zum Klimaschutz zu erheben, ist rechtswidrig.

Während das Streikrecht im beschriebenen Rahmen aus dem Grundgesetz folgt, hat es der Gesetzgeber bisher versäumt, festzulegen, wie weit das Handeln von kollektiven Akteuren wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden gehen darf. Denn durch einen Streik wird oftmals nicht nur der Arbeitgeber geschädigt, sondern auch Dritte, die mit den Tarifauseinandersetzungen nichts zu tun haben. Bei Pilotenstreiks oder Lokführerstreiks ist diese Wirkung auf Dritte der eigentliche Machthebel im Arbeitskampf: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will…“ Aber ist das auch legitim? Oder genauer gefragt: Welches Handeln im Rahmen von kollektiven Arbeitskämpfen ist mit dem Schutz der individuellen Freiheit aller Bürger vereinbar und welches nicht? Wer darf wen zu was zwingen? Und welche Schädigungen Dritter sind zumutbar und verhältnismäßig? Diese Fragen sind alles andere als eindeutig beantwortbar, sollten aber im Parlament ausgehandelt und beantwortet werden.

Da das kollektive Arbeitsrecht nicht auf einer ausformulierten gesetzlichen Grundlage beruht, durch welche die genannten Fragen entschieden und in welche sowohl politische Kompromisse als auch Kompromisse zwischen den betroffenen Interessengruppen – und das sind nicht nur die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände – einfließen könnten, sondern auf „Richterrecht“, sind die Grenzen der Legitimität von Streiks sehr verschwommen. Auf der Grundlage der im Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland garantierten Koalitionsfreiheit sind vor allem zwei höchstrichterliche Entscheidungen aus den Jahren 1971 und 1991 maßgeblich.

So hat das Bundesarbeitsgericht 1971 entschieden, daß Arbeitskampfmaßnahmen grundsätzlich unter dem Gebot der Verhältnismäßigkeit stehen.1 Arbeitskämpfe dürften nur dann eingeleitet werden, wenn sie zur Erreichung rechtmäßiger Kampfziele und des nachfolgenden Arbeitsfriedens geeignet und sachlich erforderlich seien. Auch dürfe durch die Beeinträchtigung Dritter das Gemeinwohl nicht offensichtlich verletzt werden. Es sollten Arbeitskampfregeln aufgestellt werden, um festzulegen, welche für die Allgemeinheit lebensnotwendigen Betriebe vom Arbeitskampf ausgenommen werden.2

Das Bundesverfassungsgericht bestätigte 1991 die vom Bundesarbeitsgericht 1971 entwickelten Grundsätze des Arbeitskampfrechts und führte aus, daß es sich dabei um eine rechtsfortbildende Konkretisierung des Artikels 9 Absatz 3 GG handele. So müsse eine von Arbeitgebern verfügte Aussperrung von Arbeitnehmern (Abwehraussperrung) als Antwort auf einen Streik (Angriffskampfmittel) den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten und sei sonst unzulässig.3

Bezüglich Streiks führte das Bundesverfassungsgericht 1991 indessen aus, daß für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung von Streiks eine gerichtliche Kontrolle der Tarifziele kaum zu vermeiden sei. „Eine solche Kontrolle widerspräche aber dem Gedanken der Tarifautonomie.“4 Obwohl das Bundesverfassungsgericht feststellt, daß dadurch nicht jede Einschränkung eines Arbeitskampfes von vornherein ausgeschlossen sei und eine solche Einschränkung durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte gerechtfertigt sein könne,5 dürfte dieses Urteil maßgeblich für die Zurückhaltung von Arbeitsgerichten sein, Streiks als unverhältnismäßig zu beurteilen. Welcher Arbeitsrichter möchte riskieren, daß sein Urteil wegen richterlicher Verletzung des Grundsatzes der Tarifautonomie von höheren Instanzen aufgehoben wird? Welcher Arbeitsrichter möchte überhaupt den Grundsatz der Tarifautonomie verletzten?

Diese „richterrechtliche“ Lage führt dazu, daß sich Arbeitsrichter der Beurteilung der Verletzung Rechter Dritter erst gar nicht ernsthaft stellen. Das kollektive Arbeitsrecht als Richterrecht hat sich dadurch selbst in eine Sackgasse geführt, aus die es selbst nur herausfinden dürfte, wenn höchstrichterliche Entscheidungen schnell einer neuen „rechtsfortbildenden Konkretisierung“ unterzogen werden.

Darüber hinaus führt die derzeitige „richterrechtliche“ Lage dazu, daß keine ordnungspolitischen Entscheidungskriterien zur Beurteilung von Verhältnismäßigkeit herangezogen werden. Die entscheidenden Fragen kommen erst gar nicht in den Blick, könnten aber in einem vom Bundestag zu erlassenden kollektiven Arbeits-Gesetz berücksichtigt werden: Welche Arbeitnehmer- und welche Arbeitgeber-Kartelle verhindern bei welchem Regelsetting wohlfahrtssteigende Marktlösungen? Wer mißbraucht seine Macht? Und wie müssen die Regeln gesetzt werden, so daß Machtmißbrauch verhindert wird? Welches Handeln im Rahmen von kollektiven Arbeitskämpfen ist mit dem Schutz der individuellen Freiheit aller Bürger vereinbar und welches nicht? Wer darf wen zu was zwingen? Und welche Schädigungen Dritter sind zumutbar und verhältnismäßig?

Solange Wettbewerb unter Anbietern herrscht, können Konsumenten ausweichen, wenn Streiks ihre Versorgung bedrohen. Für Lufthansakunden ist es zwar ärgerlich, wenn sie ihren Flug wegen eines Streiks des Kabinenpersonals nicht antreten können. Sie können aber in Zukunft ihre Flüge bei anderen Anbietern buchen, die zuverlässiger sind. Unter Wettbewerbsbedingungen ist daher der Machtmißbrauch durch streikfreudige Gewerkschaften stark eingeschränkt. Verhalten sie sich unverantwortlich, geht am Ende das Unternehmen pleite und die Arbeitnehmer verlieren ihre Jobs.

Anders verhält es sich in staatlichen oder staatsnahen Monopolunternehmen wie der deutschen Bahn. Dort kann eine Spartengewerkschaft wie die der Lokführer ohne Arbeitsplatzrisiko für ihre Mitglieder ein ganzes Unternehmen lahmlegen – und damit große Teile der Wirtschaft, wenn dieses Unternehmen eine Netzwerkfunktion hat. In solchen Unternehmen sollte das Streikrecht vom Gesetzgeber entsprechend eingeschränkt werden. Denkbar ist, daß Beschäftigten solcher Unternehmen – wie den Beamten des deutschen Staats – überhaupt kein Streikrecht gewährt wird. Wer sich daran stört, muß ja nicht Beamter – oder Lokführer – werden. Das heißt, es sollte auf die Forderung des Bundesarbeitsgerichts von 1971 zurückgekommen werden. Es müssen Arbeitskampfregeln aufgestellt werden, um festzulegen, welche für die Allgemeinheit notwendigen Betriebe vom Arbeitskampf ausgenommen werden.


1 AP Nr. 43 zu Art. 9 GG Arbeitskampf.

2 Vgl. Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: Grenzen des Streikrechts, ausgearbeitet von Patrizia Robbe, WD 3 – 274/07, 2007, S. 5.

3 Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: Grenzen des Streikrechts, ausgearbeitet von Patrizia Robbe, WD 3 – 274/07, 2007, S. 6.

4 BVerfGE 84, S. 212 ff., S. 231.

5 Vgl. Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: Grenzen des Streikrechts, ausgearbeitet von Patrizia Robbe, WD 3 – 274/07, 2007, S. 6 – 7.