30.04.2020 - Kommentare

Mut zu mehr Transparenz beim RKI

von Philipp Immenkötter


Die Berechnungen der Reproduktionszahl R des Robert Koch Instituts (RKI) geben Rätsel auf und sorgen unnötig für Beunruhigung. Geschuldet ist dies unter anderem mangelnder Transparenz.

Die Reproduktionszahl R einer Infektionskrankheit ist eine der wichtigsten Kennzahlen zur Steuerung behördlicher Maßnahmen bei der Bekämpfung einer Epidemie. Sie gibt an, wie viele Personen ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt, wodurch Erwartungen über den Verlauf einer Epidemie gebildet werden können. Liegt R über eins, kommt es zu einer exponentiellen Ausbreitung. Liegt der Wert hingegen unter eins, kommt eine Epidemie langfristig zum Erliegen.

Behördliche Maßnahmen zur Eindämmung einer Epidemie haben einen extrem großen Einfluss auf persönliche und wirtschaftliche Freiheiten. Daher ist es umso wichtiger, dass die zentralen Steuerungsgrößen der Bevölkerung kommuniziert und die dahinterstehende Methodik der Fachöffentlichkeit transparent offengelegt werden.

Das RKI hat erstmals am 7. April im Lagebericht zur Coronavirus-Krankheit-2019 (Covid-19) das Ergebnis seiner Schätzung der Reproduktionszahl veröffentlicht. Eine Erklärung zur Methodik wurde im Epidemiologischen Bulletin 17/2020 online am 9. April bereitgestellt. Die Kennzahl wird seitdem täglich publiziert und findet breiten Anklang in den Medien. Wie auch das sogenannte „flattening the curve“ gehört die Bedingung, dass R unter eins gehalten werden muss, zum Allgemeinwissen darüber, wie das Coronavirus in Schach gehalten werden kann.

Leider wagt das RKI nicht, die angewendete Methodik vollständig offen zu legen, so dass fachkundige Interessierte die Berechnung detailliert nachvollziehen und replizieren können. Beispielsweise sind verschiedene Ausführungen des RKI unvollständig und nicht ausreichend mit wissenschaftlichen Quellen belegt. Für zentrale Annahmen über die Differenz zwischen Infektion und Auftreten erster Symptome, sowie über die Generationszeit1 der Infektion werden keine Studien benannt. Ebenso werden keine Informationen über den Ansatz zur Berechnung der Standardfehler bereitgestellt.

Für hohe Irritationen sorgte eine Punktschätzung der Reproduktionszahl, die am Montag, den 27.04., bekannt gegeben wurde und sich auf Wert für den 23. April bezog (siehe Grafik 1). Im Lage- und Situationsbericht des RKI wurde für diesen Tag ein Schätzwert von 1,0 (mit einem 95%‑Konfidenzintervall von 0,8 bis 1,1) publiziert, nachdem zuvor die Punktschätzung 12 Tage lang unterhalb von 1,0 gelegen war. Im Laufe der davor liegenden Tage, die in die Berechnung einfließen, war die Anzahl der Neuerkrankungen von täglich rund 2.000 auf unter 1.500 zurückgegangen.2 Auch lag kein Ausreißer in der Zeitreihe vor, der die Ergebnisse hätte verzerren könnte. Wie sich hieraus eine Einschätzung ergeben konnte, dass sich die Krankheit linear verbreitete, war nicht ersichtlich.

Veröffentlichungen dieser Art nähren Mutmaßungen über politisch gewünschte Ergebnisse. Schließlich wurde die überraschenderweise wieder höhere und in einen kritischen Bereich fallende Reproduktionszahl zu Beginn der Woche veröffentlicht, in der die Bundeskanzlerin mit den Ministern über die zukünftigen Maßnahmen beraten hat. Den Nährboden für solche Mutmaßungen stellt das RKI selbst bereit, wenn es seine Methodik und Datengrundlage nicht hinreichend offenlegt.

Am Abend des 29.04. wurde eine Überarbeitung der Schätzmethodik bekannt gegeben und die Berechnung vereinfacht. Die Reproduktionszahl ergibt sich nun aus dem Verhältnis der Anzahl der Neuerkrankungen zu den Neuerkrankungen vier Tagen zuvor. In der folgenden Graphik 2 bedeutet dies: Höhe des roten Balkens geteilt durch Höhe des grünen Balkens. Die Schwankungsbreit des Schätzers scheint durch die neue Methodik etwas erhöht worden zu sein, welches ein Vergleich der gepunkteten und gestrichelten Graphen andeutet.

Vor dem Hintergrund des Einflusses des RKI auf Politik und Behörden wäre ein höheres Maß an Transparenz in der Offenlegung der Berechnungen der Reproduktionszahl, wie es in wissenschaftlichen Kreisen üblich ist, zu erwarten. Arbeiten des Helmholz-Zentrum für Infektionsforschung über die Reproduktionszahl zeigen, dass dies durchaus auch bei deutlich höherer Komplexität möglich ist. Jüngst gibt dieses Zentrum ein auf Meldezahlen basierendes R mit nur 0,59 an (Stand 29.04.2020). Das RKI sollte erklären müssen, warum es zu höheren Schätzungen kommt.


1 Die Generationszeit entspricht der mittleren Tagesanzahl zwischen Infektionszeitpunkt und einer durch die gleiche Person verursachte Folgeinfektion.

2 Auf Seite 14 des Epidemiologischen Bulletin 17/2020 des RKI wird angegeben, dass die Reproduktionszahl als Quotient der Anzahl von Neuerkrankungen in zwei aufeinanderfolgenden Zeitabschnitten von vier Tagen berechnet wird.