19.01.2020 - Kommentare

Liberaler Aufbruch

von Thomas Mayer


Die liberale Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft legte die Grundlage für unseren heutigen Wohlstand. Was sie brachte, kann man eindrucksvoll an den von dem Wirtschaftshistoriker Angus Maddison gesammelten Daten zur Entwicklung des britischen realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf in den letzten tausend Jahren sehen. Vom Jahr 1000 bis 1600 stieg das Prokopfeinkommen im Schnitt um gerade mal 0,1 Prozent pro Jahr. Seit Beginn des liberalen Zeitalters um das Jahr 1600 ist es dagegen mit einer durchschnittlichen Jahresrate von 0,8 Prozent gewachsen. Einen noch gewaltigeren Effekt hatte die Übernahme liberaler Prinzipien in der Wirtschaftspolitik auf die Entwicklung Chinas. In der Kaiserzeit und der Zeit der kommunistischen Diktatur unter Mao Zedong wuchs das reale Prokopfeinkommen in der Zeit von 1850 bis 1980 im Schnitt nur um jährlich 0,4 Prozent. Mit der Liberalisierung der Wirtschaft seit Ende der siebziger Jahre schoss das Wachstum dann auf eine bislang unvorstellbare Höhe von 7 Prozent pro Jahr hoch.

Wo sich der Staat zurücknimmt und der Einzelne sich entfalten kann, steigt der Wohlstand. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn der Staat dem Einzelnen die Freiheit nimmt, verarmt die Gesellschaft. Obwohl die Schuldenkrise vor einem Jahrzehnt und die seit Jahrzehnten vorangetriebene Finanzialisierung der Wirtschaft zu einem wesentlichen Teil von der Niedrigzinspolitik staatlicher Zentralbanken verursacht wurde, machen viele Menschen das Versagen der Märkte dafür verantwortlich. Der Ruf nach weniger Markt und mehr Staat wird immer lauter. Der Staat soll nicht nur die Märkte zügeln, sondern auch die am Markt erzielten Einkommen und daraus gebildeten Vermögen im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ umverteilen. Das Klima soll mit filigraner staatlicher Wirtschaftslenkung geschützt werden. Um in der liberalen Ordnung geschaffene Freiheitsrechte durch staatliche Verhaltensvorschriften einschränken zu können, wird eine drohende Apokalypse beschworen und Politiker, deren Geistesverwandte 1968 noch gegen Notstandsgesetze Sturm gelaufen sind, rufen den „Klimanotstand“ aus. Durch mangelhafte Umsetzung liberaler Ordnungsprinzipien hervorgerufene unerwünschte Nebenerscheinungen werden zum Anlass genommen, liberale Prinzipien selbst über Bord zu werfen. Man sägt den Ast ab, auf dem man sitzt.

Die Abkehr von der liberalen Ordnung bringt nicht nur wirtschaftliche Verluste, sondern stiftet auch gesellschaftlichen Unfrieden. Die Verpflichtung Einzelner auf gesamtgesellschaftliche Ziele führt zu „politischem Moralismus“, wie von dem Philosophen Hermann Lübbe erstmals in einem 1984 und jüngst wieder veröffentlichen Aufsatz beschrieben. Sachfragen werden zu Haltungsfragen umgemünzt, und wer widerspricht wird zur moralischen Unperson gemacht. Politischer Moralismus ist nicht nur, aber vorzugsweise ein Anliegen der politischen Linken, die schon immer von der Idee einer Gesellschaftsordnung fasziniert war, in der individuelle und kollektive Interessen verschmolzen sind. Sowohl die Gesellschaft als auch die Wirtschaft sollen von einem einheitlichen Willen geleitet werden. Dazu versuchen einflussreiche Interessengruppen die Staatsgewalt und die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu steuern.

Wenn wir die über Jahrhunderte errungene Freiheit und unseren heutigen Wohlstand nicht verlieren wollen, brauchen wir eine liberale Erneuerung. Das wird jedoch nur gelingen, wenn wir das uns von den politischen Moralisten auferlegte Joch abwerfen und einen neuen liberalen Aufbruch wagen.

Erschienen am 19. Januar 2020 in "Welt am Sonntag".

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