14.08.2024 - Kommentare

Zeitenwende an den Finanzmärkten

von Thomas Mayer


Gelegentlich steigen die Aktienmärkte mit scheinbar traumwandlerischer Sicherheit wie am Schnürchen gezogen nach oben, nur um dann nach jähem Erschrecken in wilder Panik nach unten zu taumeln. So geschehen in den ersten acht Monaten dieses Jahres (Grafik 1). Oft geben Fantasien über die segensreichen Wirkungen neuer Technologien oder billiges Geld den Auftrieb. Dieses Jahr kamen beide zum Zug: Künstliche Intelligenz schuf eine Euphorie unter den Marktteilnehmern wie sie vorher bei der Entstehung der Eisenbahnen Ende des neunzehnten oder des Internets Ende des zwanzigsten Jahrhunderts zu sehen war. Dazu kam billiges Geld aus Japan in einem Umfeld weltweit höherer Zinsen, das zur Kreditfinanzierung von Anlagen in anderen Ländern, darunter auch Technologieaktien in den USA, einlud.

Als die Bank von Japan Ende Juli unerwartet entschlossen ihren Leitzins anhob und Zweifel an der Ertragsstärke der Technologieunternehmen sowie der Robustheit der US-Wirtschaft auftraten, kam es in den ersten Augusttagen zum Blitz-Crash. Die (aus den Optionspreisen implizit errechnete) Volatilität der US Aktienpreisindex S&P 500 stieg am 5. August auf das dritthöchste Tageshoch seit 1992, da viele Anleger versuchten, ihre Positionen abzusichern (Grafik 2).

Elastisches Geld

Eine Korrektur der überzogenen Hoffnungen zu den Wirkungen der Künstlichen Intelligenz sollte kein Anlass zur Sorge sein. Die Einschätzung technologischer Innovation ist immer mit Versuch und Irrtum verbunden. Dagegen weist die Reaktion auf die Zinsanhebung in Japan auf ein größeres Problem hin. Seit der Ankunft des leicht vermehrbaren Papiergelds Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Europa ist die Kreditfinanzierung von Anlagen ein wiederkehrendes Phänomen.

Anfang des achtzehnten Jahrhunderts schuf der zum französischen Finanzminister aufgestiegene schottische Abenteurer John Law mit Aktien angeblich werthaltiger französischer Überseebesitzungen gedecktes Papiergeld.1 Die boomende Aktiennachfrage erlaubte ihm die Ausweitung der Geldmenge. Als sich jedoch die Überseebesitzungen weit weniger wertvoll als erwartet erwiesen, platzte die „Mississippi-Blase“ und Laws Papiergeldsystem fiel mit ihr zusammen. Rund zwei Jahrhunderte später nährte die Niedrigzinspolitik der damals jungen US-Notenbank Federal Reserve einen Aktienboom, der mit dem Crash von 1929 die USA und Europa in Deflation und Depression stürzte. Heute erleben wir die späte Phase eines Geldexperiments, das sich noch kühner als Laws Versuch erweisen könnte.

Die Zentralbankwirtschaft

Es begann damit, dass die Bank von Japan mit einer Niedrigzinspolitik zur Schwächung des Yen-Wechselkurses in den achtziger Jahren eine Hausse auf den Märkten für Vermögenswerte schuf, welche die gesamte Wirtschaft zur „Blasenökonomie“ aufblähte. Von den Wirkungen ihrer Politik überrascht, versuchte die Bank von Japan Anfang der neunziger Jahre die Blase kontrolliert zu deflationieren. Stattdessen platzte die Blase jedoch mit verheerenden Auswirkungen für die Vermögenswerte und Banken, die Anlagen mit Krediten finanziert hatten. Die Antwort der Bank darauf war eine Politik des noch billigeren Geldes. Zwar konnte sie die Auswirkungen der Finanzkrise auf die Realwirtschaft abfedern, doch zementierte sie damit auch eine ineffiziente Wirtschaftsstruktur. Durch Niedrigzinsen am Leben gehaltene „Zombieunternehmen“ hielten Ressourcen in unproduktiven Verwendungen, so dass das Wirtschaftswachstum abstarb.

Ebenfalls Anfang der neunziger Jahre schwenkten die Zentralbanken der anderen Industrieländer auf eine Politik der „Inflationssteuerung“ ein. Technischer Fortschritt und Globalisierung drückte die Konsumentenpreisinflation über lange Zeit unter den Zielwert. Die Zentralbanken reagierten darauf mit einer Niedrigzinspolitik nach dem früheren Muster der USA in den zwanziger und Japans in den achtziger Jahren. Das Ergebnis waren wiederkehrende Finanzblasen, die mit der „Großen Finanzkrise“ von 2007-08 ihren vorläufigen Höhepunkt hatten. Wie die Bank von Japan zuvor antworteten die Zentralbanken darauf mit einer Politik des noch leichteren Geldes. In der Pandemie gingen sie zur unverblümten monetären Finanzierung hoher Staatsdefizite über. Das Ergebnis waren die Wiederkehr der Konsumentenpreisinflation und eine – nur vom Blitz-Crash 2020 unterbrochene – Aktienhausse.

Der Entzug

Mit den Zinsanhebungen ab 2022 beruhigte sich die Konsumentenpreisinflation, während die Aktienhausse entgegen den Erwartungen Vieler weiterging. Die noch länger niedrigen Zinsen in Japan und die von der Künstlichen Intelligenz ausgelösten Hoffnungen auf weitere Unternehmensgewinne dürften dazu beigetragen haben.

Möglicherweise war der Blitz-Crash von Anfang August das Wetterleuchten, das manchmal einem größeren Gewitter vorausgeht. Ein ausgewachsener Aktienmarktcrash würde wohl die schon länger prognostizierte Rezession in den USA auslösen. Darüber hinaus könnte sich ein Crash zur nächsten Finanzkrise auswachsen, von der vor allem die weniger regulierten „Schattenbanken“ (wie zum Beispiel Kreditfonds) betroffen sein würden.

Doch wären eine neue Finanzkrise und damit verbundene tiefe Rezession ein Desaster für die hoch verschuldeten Staaten. Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds stieg die Staatsverschuldung der Industrieländer („G20 Advanced Countries“) von 77,0 Prozent des Bruttoinlandsprodukts 2007, dem Jahr vor der Großen Finanzkrise, auf 133,4 Prozent im Pandemiejahr 2020 (Grafik 3). Erst aufgrund des anziehenden Wachstums des nominalen Bruttoinlandsprodukts - vor allem dank höherer Inflation - sank die Staatsschuldenquote wieder auf zuletzt 121,0 Prozent im Jahr 2023.

Eine schrumpfende Wirtschaft und auf alte Tiefstände fallende Inflation würde die Staatsverschuldung wohl über das frühere Maß hinaus explodieren lassen. Sorgen über die Solvenz könnten zu einer Flucht aus Staatsanleihen und der Insolvenz von Staaten führen. Ein Crash amerikanischer Staatsanleihen, des ultimativen „safe asset“ unter den Finanzanlagen, hätte unabsehbare Folgen für die globalen Finanzmärkte.

Die maßgeblichen Zentralbanken dürften daher schnell zu ihrer Politik der extremen Niedrigzinsen zurückkehren, sollten sich diese Risiken am Horizont abzeichnen. Schon nach den jüngsten Turbulenzen hat der Vize-Gouverneur der Bank von Japan zu Protokoll gegeben, dass die Bank die Zinsen nicht weiter erhöhen werde, solange sich die Finanzmärkte nicht stabilisiert hätten. Der Terminmarkt für die Leitzinsen der Federal Reserve preist ein ähnliches Verhalten der US-Notenbank ein.

Konsequenzen für den Anleger

Privatanleger können auf diese Aussichten mit mindestens drei Strategien reagieren. Erstens können sie versuchen, sich von allen risikobehafteten Anlagen zu verabschieden und in „risikolosen“ Anlagen Schutz suchen. Aber was sind „risikolose“ Anlagen, wenn sogar US-Staatsanleihen ausfallen oder zumindest durch hohe Inflation real entwertet werden könnten? Und was, wenn die Katastrophe bis auf weiteres ausbleibt und die Aktienmärkte neue Gipfel erklimmen? Auch wenn Warren Buffett mit einem hohen Berg an Cash zumindest teilweise diese Strategie umzusetzen scheint, erscheint sie für den Privatanleger doch wenig zielführend.

Zweitens können Privatanleger versuchen, bei dem Spiel „Reise nach Jerusalem“ mitzumachen. Das heißt, sie könnten versuchen, den Markt zu „timen“, indem sie bis vor dem nächsten Crash investiert bleiben, vor dem Crash aus Risikoanlagen aus und danach wieder einsteigen würden. Doch Crashs und die ihnen folgende Erholung richtig abzupassen hat noch kaum jemand geschafft.

Bleibt drittens also, sich so aufzustellen, dass man einen Crash finanziell überleben kann. Dazu gehört, Geld, das man für laufende Ausgaben braucht, in liquide und weniger schwankungsanfällige Instrumente wie Geldmarktfonds und Laufzeitenfonds mit qualitativ hochwertigen Anleihen zu investieren. Geld, das man längere Zeit liegen lassen kann, sollte man weiterhin in Aktien investieren. Denn auch wenn es zum Marktcrash kommt, dürften die Zentralbanken darauf mit einer erneuten Politik des leichten Gelds reagieren, um eine tiefere Finanzkrise zu verhindern, die Wirtschaft zu stabilisieren und ihre staatlichen Herren vor der Insolvenz zu bewahren. Inflation ist für sie der geringere Preis, und vor Inflation bieten Aktienanlagen einen gewissen Schutz. Doch könnte ihnen die Entwicklung länger und umfangreicher aus dem Ruder laufen. Dafür bieten Anlagen in Gold einen zusätzlichen Schutz.

Fazit

Mit der Wiederkehr der Inflation kam eine Zeitenwende auch für die Finanzmärkte. Den Zentralbanken ist es zwar gelungen, mit höheren Zinsen die Konsumentenpreisinflation einzudämmen. Aber mit den Zinserhöhungen sind die Risiken für die Stabilität der Finanzmärkte gewachsen. Wann, wo und wie diese Risiken zum Vorschein kommen, lässt sich nicht vorhersehen. Der Anleger kann sich für das riskante Umfeld nur angemessen positionieren.


1 Siehe Thomas Mayer, John Laws Exempel. Flossbach von Storch Research Institute 8. März 2018.

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