30.06.2021 - Kommentare

Schuldenverharmlosung als geopolitisches Problem

von Norbert F. Tofall


Durch die vielfältigen fiskalpolitischen und geldpolitischen Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise ist insbesondere in den USA und der EU die Staatsverschuldung auf neue Rekordstände gestiegen. Anders als nach der Finanzkrise von 2007/2008 hat sich China in der Corona-Krise mit schuldenfinanzierten Rettungsmaßnahmen auffällig zurückgehalten. Zudem scheint China aufgrund seiner schnellen Eindämmung der Pandemie und der anschließenden wirtschaftlichen Erholung als Sieger aus der Corona-Krise hervorzugehen. China wird alles daransetzen, diesen Vorteil weiter auszubauen, und könnte dabei von der allseits um sich greifenden Schuldenverharmlosung in den westlichen Gesellschaften profitieren. Denn aufgrund der Schuldenverharmlosung in den USA und in der Europäischen Union könnte schrittweise eine Situation entstehen, in welcher die ökonomischen Anreize immer stärker wachsen, Geld nicht länger in Dollar oder Euro zu halten, anzulegen und zu sparen, sondern in einer Währung, die gemessen an der hinter ihr stehenden Wirtschaftskraft systematisch unterbewertet ist und deshalb mittel- und langfristig eher aufwerten als abwerten dürfte.

Mittelfristig könnten so geopolitische Gründe wachsen, in den USA und Europa eine Zinswende einzuleiten, um Dollar und Euro zu stabilisieren und um China auch geldpolitisch entgegenzutreten. Eine Zinswende, die diesen Namen verdient, ist jedoch nur bei begleitender oder nach vorheriger Entschuldung realistisch. Politische Mehrheiten sind in den westlichen Gesellschaften dafür derzeit nicht erkennbar. Sollte allerdings Inflationsdruck entstehen, sind sich ändernde politische Mehrheiten alles andere als unwahrscheinlich.

I.

Die in den westlichen Gesellschaften um sich greifende Schuldenverharmlosung gewinnt ihre Dynamik durch eine Aussage, die, wenn man sie isoliert betrachtet, nicht falsch ist. Diese Aussage lautet, daß bei Null- und Negativzinsen die Schuldentragfähigkeit der Staaten unbegrenzt sei. Dabei wird jedoch ausgeblendet, daß die Null- und Negativzinsen keine Marktzinsen widerspiegeln, sondern von den Zentralbanken nach unten manipulierte Zinsen darstellen. Da der Zins der wichtigste Preis einer Volkswirtschaft ist und seine Höhe maßgeblich über die intertemporale Kapitalallokation entscheidet, bedeuten die über Jahre nach unten manipulierte Zinsen nichts anderes, als daß die westlichen Volkswirtschaften seit Jahren mit falschen Risikobewertungen „arbeiten“. Die Risiken sind dadurch aber nicht verschwunden, sondern akkumulieren sich weitgehend unsichtbar hinter der Nebelbank der künstlichen Null- und Negativzinsen, was mit der Zeit zur Kapitalaufzehrung führt.

Dieser Prozeß der Akkumulation von unsichtbar geschminkten Risiken mit der Folge von Kapitalaufzehrung führt zur Zombifizierung immer größerer Bereiche einer Volkswirtschaft, weil die Bereinigung ökonomischer Probleme gezielt verschleppt wird.1 Wachstums- und Investitionsschwäche sind die Folge, was insbesondere im Vergleich zur Wachstumsdynamik in China höchst problematisch ist. Die westlichen Gesellschaften – und die Europäische Union erheblich stärker als die USA – geraten bezüglich des geopolitischen Konkurrenten China ökonomisch selbstverschuldet immer weiter ins Hintertreffen, was geopolitische Folgen zeitigen dürfte.  

Die Rekordschulden der USA und der EU, die durch die Null- und Negativzinspolitik der Zentralbanken und ihren korrespondierenden Anleihekaufprogrammen überhaupt erst ermöglicht werden,2 sind also alles andere als harmlos. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, daß durch gezielte Schuldenverharmlosung von den ökonomischen Kosten, die durch die Rekordverschuldung und die Null- und Negativzinspolitik entstehen, abgelenkt werden soll.

II.

Dazu kommt die Gefahr, daß die derzeitigen Rekordschuldenstände, welche in Friedenszeiten bisher noch nie gesehen wurden, eine Inflationsdynamik auslösen könnten. Zur Zeit wollen die westlichen Zentralbanken etwas mehr Inflation zulassen und ein symmetrisches Überschießen über ihr bisheriges Inflationsziel, gemessen am vorherigen Unterschreiten, dulden. Aber was passiert, falls die Inflation darüber hinaus nach oben aus dem Ruder laufen sollte? Halten die Zentralbanken dann trotzdem für ewig und „whatever it takes“ die Zinsen niedrig?

Daß auch nur moderate Zinserhöhungen die Schuldentragfähigkeit der meisten westlichen Länder sofort belasten und in einigen Fällen sprengen könnten, liegt auf der Hand. Und daß ein italienischer Staatsbankrott Auswirkungen auf die ganze Eurozone hätte, muß nicht eigens erörtert werden. Die EZB hat in den letzten Jahren deshalb alles unternommen, um ein Herausbrechen von Italien aus der Eurozone zu verhindern. Aber auch Frankreichs Schuldentragfähigkeit würde bereits bei moderaten Zinserhöhungen enorm belastet werden. Die EZB wird deshalb möglichst lange eher deutlich höhere Inflationsraten zulassen, als durch Zinserhöhungen die gesamte Eurozone unter Druck zu setzen.

Die Frage ist jedoch, wie lange die EZB das durchhält, falls in den USA die Zinsen erhöht werden sollten. Die Schuldentragfähigkeit der USA würde durch Zinserhöhungen zwar auch belastet, die in den USA bereits zu beobachtende größere Wachstumsdynamik als in Europa könnte diese Belastung jedoch durch größere Steuereinnahmen – zumindest teilweise – ausgleichen. Zudem ist nicht auszuschließen, daß die USA in der Zeit nach Joe Biden zu einer solideren Fiskalpolitik zurückkehren. Aber kann sich die EZB in einer solchen Situation dann von der Fed abkoppeln?

Natürlich stellt sich auch die umgekehrte und zeitlich vorhergehende Frage: Kann es der Fed vorab überhaupt gelingen, sich von der EZB, aber auch von der Bank of Japan und anderen Zentralbanken abzukoppeln und Zinserhöhungen in erheblicher Höhe wirksam durchsetzen?

Die Beantwortung beider Fragen dürfte maßgeblich von der Höhe der Inflation in den jeweiligen Währungsgebieten abhängen und ob die Inflation eine Höhe erreicht, von der „politischer“ Inflationsdruck ausgeht, der die Zentralbanken zwingt, eine Zinswende, die diesen Namen auch verdient, einzuleiten.

Anders als die EZB hatte die Fed in den letzten Jahren einzelne zaghafte Versuche unternommen, deutlich höhere Zinsen durchzusetzen, ruderte jedoch aufgrund der negativen Reaktion der Finanzmärkte zurück. Die Fed dürfte eine negative Reaktion der Finanzmärkte deshalb wohl nur dann als notwendige Kosten in Kauf nehmen, wenn der Inflationsdruck erheblich ist und die Befürworter einer Zinswende politisch Zulauf erhalten. Darüber hinaus könnte der politische Druck steigen, falls eine Inflationshöhe erreicht wird, welche die Dominanz des Dollar als Weltleitwährung gefährdet. Da China in der Corona-Krise keine schuldenfinanzierten Rettungsprogramme wie in der Finanzkrise 2007/2008 aufgelegt hat und seine Wachstumsdynamik größer ist als die der USA, könnte die Dollar-Dominanz mit der Zeit durchaus Risse bekommen, wenn keine entsprechenden Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Daß die USA keine Gegenmaßnahmen ergreifen und „zins- und damit tatenlos“ zuschauen werden, wie ihre Dollar-Dominanz schrumpft, ist mehr als unwahrscheinlich.

Anders als in den USA ist in der Europäischen Union durch eine Zinswende, die diesen Namen auch verdient, der Zusammenhalt der gesamten Eurozone gefährdet, weil ständig die Gefahr droht, daß ein überschuldetes Euromitgliedsland aus der Eurozone crashen könnte. Das heißt, die Bereitschaft der EZB, höhere Inflationsraten in Kauf zu nehmen, dürfte noch ausgeprägter sein als in den USA. Die Bereitschaft unterschiedlicher Euro-Mitgliedsländer, höhere Inflationsraten in Kauf zu nehmen, dürfte jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und die bisherigen Interessenunterschiede zwischen fiskalpolitisch solideren Nord-Euroländern und fiskalpolitisch unsolideren Süd-Euroländern verstärken. Sollten in den USA von der Fed höhere Zinsen durchgesetzt werden, dann liegt die Vermutung nahe, daß die Nord-Euroländer den Druck für eine Zinswende erhöhen. Die Süd-Euroländer könnten dem auf auf keinen Fall zustimmen, weil ihnen sonst der Staatsbankrott drohen würde. Euro-Austrittsdrohungen dürften dann wieder sehr schnell erhoben werden. Bei erheblich höheren Inflationsraten in der Eurozone wird die Eurozone deshalb politisch erneut unter Existenzdruck gesetzt.

Daß die EU in einer solchen Situation weder ein attraktiver Partner für die USA ist, um China gemeinsam entgegenzutreten, noch auch nur annähernd ausreichend Einigkeit und eigene Stärke entwickeln kann, um als eigenständiger und souveräner Player neben China und den USA bestehen zu können, verdeutlicht die ökonomisch und politisch desaströsen Folgen der Schuldenverharmlosung.

III.

Aber selbst für den Fall, daß keine ausgeprägte Inflationsdynamik in den USA und der EU entstehen sollte und wir nur zeitlich begrenzt höhere Inflationsraten sehen werden, ist für die Europäische Union die Entschuldung der Euro-Mitgliedsländer eine Überlebensfrage.3 Denn die ausufernden Schulden der Euro-Mitgliedsländer sind der ökonomische Spaltpilz, der das europäische Einigungsprojekt auf Dauer gefährdet. Wer die Europäische Union als Friedensprojekt erhalten und sie gleichzeitig ökonomisch so in Stellung bringen will, daß sie im geopolitischen Kampf zwischen China und den USA nicht untergeht, muß den wachsenden Spaltpilz in der Eurozone entfernen und die Eurozone entschulden.4

Viele europäische Regierungen, die panikartig auf die Status-quo-Wahrung fixiert sind, müßten eigentlich erkennen, daß die Entschuldung der Eurozone das gemeinsame Interesse der Südländer und der Nordländer in der Eurozone darstellt. Denn wenn die Eurozone entschuldet wäre, dann wären sowohl europäische Staatsschuldenhilfsprogramme als auch eine EZB-Geldpolitik, welche durch Null- und Negativzinspolitik die Staatsschulden für die Euroländer tragfähig hält, unnötig. Der Streit, wer zahlt wie wessen Staatsschulden, wäre hinfällig. Der Spaltpilz wäre entfernt.

Darüber hinaus wäre ein frei sich auf dem Markt bildender Zins wieder möglich. Die Zombifizierung von Banken und Unternehmen könnte beendet und neue Wachstums- und Investitionspotentiale könnten erschlossen werden. Ohne einen frei sich auf dem Markt bildenden Zins wird die Marktwirtschaft jedoch in immer mehr Bereichen der Wirtschaft ausgehebelt werden und zur politisch gelenkten Staatswirtschaft verkommen. Eigentumsrechte werden mehr und mehr eingeschränkt und staatlich reguliert werden, so daß von Eigentum an den Produktionsmitteln immer weniger die Rede sein kann. Die Finanzrepression der letzten Jahre wird enorm ausgebaut werden. Die Europäische Union wird aufgrund der daraus folgenden ökonomischen Schwäche im geopolitischen Kampf zwischen China und den USA zerrieben werden. Bereits im ihrem heutigen ökonomischen Zustand kann die EU den geopolitischen Konflikt zwischen China und den USA nicht nennenswert beeinflussen. Die Entschuldung der Eurozone und die daraus folgende ökonomische Gesundung könnten das ändern. Die Entschuldung der Eurozone ist deshalb geopolitisch notwendig.


1  Siehe Pablo Duarte und Agnieszka Gehringer: Die fehlenden Insolvenzen, Kommentar zur Makroökonomie des Flossbach von Storch Research Institute vom 16. Juni 2021, online unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/die-fehlenden-insolvenzen/

2 Siehe Pablo Duarte und Thomas Mayer: Unterwerfung: Staatsfinanzierung durch Zentralbanken, Kommentar zur Makroökonomie des Flossbach von Storch Research Institute vom 30. März 2021, online unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/unterwerfung-staatsfinanzierung-durch-zentralbanken/

3 Vgl. zu den nächsten Absätzen Norbert F. Tofall: Entschuldung nach der Corona-Krise. Ohne Entschuldung der Eurozone wird die EU nicht überleben, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 8. April 2020, online unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/entschuldung-nach-der-corona-krise/

4 Siehe zu Entschuldungsszenarien Thomas Mayer und Gunther Schnabl: How to Escape from the Debt Trap: Lessons from the Past, Studie zur Makroökonomie des Flossbach von Storch Research Institute vom 3. Mai 2021, online unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/wie-man-der-schuldenfalle-entkommt-lehren-aus-der-vergangenheit/

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