28.07.2023 - Kommentare
Deutschland wird älter und befindet sich in einer Produktivitätskrise. Ein Grund: die alternde Gesellschaft bringt weniger Innovationen hervor. Der Einsatz künstlicher Intelligenz, besserer Zugang zu Risikokapital für Gründer und eine Förderung des Unternehmertums können die drohenden Wohlstandsverluste abwenden.
Alterung und Produktivität
In Deutschland steigt das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbsfähigen stetig an. Das BIP pro Beschäftigten ist seit beinahe sechs Jahren rückläufig. Dazwischen besteht ein Zusammenhang: Um in einer entwickelten Volkswirtschaft Produktivitätssteigerungen zu erzielen, benötigt es Innovationen, das heißt neue Ideen und deren Kommerzialisierung. Einer aktuellen Studie zu Folge sinkt die Innovationsfähigkeit in alternden Gesellschaften jedoch ab.1
Für Innovationen benötigt eine Gesellschaft die Einfälle junger Menschen und das kritische Überprüfen der Ideen durch ältere Generationen. Junge Menschen denken eher fluid. Sie können damit besser neue Informationen verarbeiten. Ältere Menschen hingegen denken in aus Erfahrung gewachsenen kristallinen Strukturen. Erfolgreiche Innovation ist ein gemeinsames Projekt beider Gruppen.
In Deutschland schrumpft aber sowohl der Anteil Erwerbsfähiger unter 45 Jahren an der Gesamtbevölkerung als auch derer über 45 Jahren (siehe Abbildung).
Beide Gruppen, die Ideenproduzenten und die Ideenprüfer, schrumpfen. Weniger Innovation und geringere Produktivität folgen. Gegenmaßnahmen sind notwendig.
Neben einfachen Produktivitätssteigerungen durch die Übernahme von Standardtätigkeiten, kann künstliche Intelligenz (KI) zunehmend die Ideenprüfung, die Hauptaufgabe von älterer Beschäftigter im Innovationsprozess, übernehmen. Eine Prüfung neuer Ideen ist zu großen Teilen ein Vergleichen eines neuartigen Konzepts mit historischen Beispielen und deren Kontext. Ein „Gespräch“ mit ChatGPT hilft schon heute die eigenen Ideen zu „diskutieren“.
Ein lebenserfahrener Mensch mit branchenspezifischem Wissen ist für finale Entscheidungen hilfreich und vermutlich schwer ersetzbar; eine Vorauswahl unter mehreren Ideen kann aber mit Hilfe von Algorithmen getroffen werden. Daher kann flächendeckende Nutzung von KI den Rückgang an menschlichen Ideenprüfern kompensieren.
Gleichzeitig muss die ebenfalls schrumpfende Gruppe von Menschen unter 45 Jahren vermehrt neue Ideen produzieren. Zum einen gilt es vorhandenen Gründergeist besser zu fördern sowie Risikobereitschaft, also Mut sowie jugendlichen Sturm und Drang, zu unterstützen.
Grundsätzlich sind junge Menschen risikobereiter als ältere. Der meist geringere Lebensstandard und weniger familiäre und finanzielle Verpflichtungen erhöhen die Attraktivität neues auszuprobieren bei gleichzeitig geringer Fallhöhe im Falle eines Scheiterns. Gute Voraussetzungen also fluides Denken in Innovation münden zu lassen - erfolgreiche Gründer berichten jedoch von einem mangelnden Bewusstsein für Gründertum innerhalb unseres Bildungssystems:
"Gründertum ist in unserem Bildungssystem nicht vorgesehen. Selbstständigkeit wird nicht ausreichend gefördert. Als Unternehmer muss man aber ständig nach eigenen, neuen Lösungen suchen. Hier werden in Deutschland sehr viele Potenziale verschenkt." 2
Einzelne schaffen es erfreulicherweise trotzdem schaffen ihre eigenen Ideen in die Tat umzusetzen. Ein Verlust von Ideen in der Breite können wir uns zukünftig jedoch nicht mehr leisten. Ein Umbau des Bildungssystems ist nötig.3 Jungen Menschen ein gesundes Selbstbewusstsein zu vermitteln, d.h. sie zu befähigen Widerstände auszuhalten und mit einer Idee (zunächst) allein dazustehen, gehört ebenfalls zu dieser Sphäre.
Zusätzlich gilt es, die Bereitstellung von Wagniskapital zur Kommerzialisierung neuer Ideen zu verbessern. Die Politik muss eine Infrastruktur, die einen reibungslosen, grenzüberschreitenden Kapitalfluss innerhalb der EU ermöglicht, schaffen. Die Kapitalmarktunion der EU sollte Priorität haben.
Etablierte Unternehmen gelangen aufgrund vorhandener Sicherheiten über Bankkredite an Kapital für Investitionen. Im Gegensatz dazu verlangen Neugründungen und der Schritt vom Start-Up zum etablierten Unternehmen nach kapitalmarktbasierter Finanzierung zum Beispiel durch die Ausgabe von Aktien oder das Engagement von Risikokapitalfonds.
In Europa fehlt jedoch ein europäischer Binnenmarkt für Kapital. Momentan werden die 27 Mitgliedsländer der EU getrennt beaufsichtigt. Die Regeln für Aktien und Anleihen, Altersvorsorge und Risikokapital variieren von Land zu Land.4 Das schlägt sich zum Beispiel in unterschiedlichen nationalen Dokumentationspflichten und steuerrechtlichen Vorgaben für Investmentfonds nieder. Diese Zersplitterung sorgt dafür, dass Kapitalflüsse oftmals an nationalen Grenzen enden. Liquidität fließt nicht ungehindert dorthin, wo sie am meisten benötigt wird. Dies erschwert Start-Ups sich Wagniskapital zu beschaffen. Eine europäische Expertengruppe hat im Jahr 2020 die wesentlichen Probleme identifiziert:5
Die Experten empfehlen vor allem Anpassungen der Regulatorik:
Zusätzlich wird eine europaweite Informationsplattform für Finanzdaten angeregt. Diese vereinfache den Informationszugang zu ausländischen Firmen für Investoren. Der nationale Fokus würde aufgebrochen, so die Argumentation.
Der Vorschlag zu Verbriefungen überzeugt insbesondere aufgrund der starken Rolle von Banken bei der Unternehmensfinanzierung in Deutschland. Innerhalb von Basel-III institutionellen Anlegern ein breiteres Investmentspektrum zu bieten, klingt ebenfalls sinnvoll. Der britische Premierminister Jeremy Hunt hat kürzlich eine ähnliche Initiative vorgestellt, die es britischen Pensionsfonds ermöglicht in Start-Ups zu investieren.6 Die EU sollte diesem Beispiel folgen.
European Long Term Investment Funds, Regulatorik zu Digitalwährungen und die geforderte Informationsplattform klingen dagegen eher nach zentralistisch gesteuerten Leuchtturmprojekten, deren Mehrwert unklar bleibt. Insbesondere professionellen Investoren sollte man zutrauen sich selbstständig über Investitionsmöglichkeiten zu informieren und Risiken von Digitalwährungen einzuschätzen. Produkte wie ELTIFs, die dem privaten Anleger Investitionen in Risikokapital erlauben, bieten professionelle Marktteilnehmer bei entsprechender Nachfrage und Wirtschaftlichkeit auch ohne Zutun der EU an. Auf Seiten der Unternehmen steht eine Informationsplattform im Widerspruch zu der angestrebten Verringerung von Berichts- und Compliance-Pflichten, da Unternehmen mal mindestens, die dort bereitgestellten Information kontrollieren müssten.
Innovationen sind der Treibstoff für Produktivitätssprünge und Wohlstand – man denke nur an die Erfindung der Elektrizität, des Traktors oder des Internets. Aufgrund der Alterung der Gesellschaft, müssen zukünftig aber weniger junge Menschen auf genauso viele gute Ideen kommen wie heute. Dafür stehen ihnen immer weniger erfahrene Ideenprüfer zur Seite.
Eigenständiges Denken fördern und Gründergeist vermitteln müssen daher fundamentale Bausteine in der Ausbildung junger Menschen werden. Die Aufgabe, die entstehenden Ideen zu prüfen, kann zukünftig teilweise von künstlicher Intelligenz übernommen.
Die erfolgreiche Kommerzialisierung von Ideen hängt auch vom verfügbaren Kapital ab. Zugang zu Liquidität ist für den Aufbau eines Unternehmens wichtig. Einen gemeinsamen europäischen Kapitalmarkt zu erschaffen, verbessert die Finanzierungsmöglichkeiten von Start-Ups und Scale-Ups. Die Ausweitung marktbasierter Finanzierung und der Abbau von Regulatorik für kleine und mittelgroße Unternehmen sollte im Vordergrund stehen.
1 Mary Kaltenberg Adam B. Jaffe Margie E. Lachman: Invention and the Life Course: Age Differences in Patenting, 2021.
2 Tagesschau.de: Wieder mehr Start-up-Gründungen: "Frischzellenkur für die Wirtschaft" und Deutschland ist ein schwieriger Standort für Start-ups, 2023.
3 Norbert Tofall: Bildungspolitik unter den Strukturbedingungen der Moderne , 2015.
4 Joachim Nagel, Gastkommentar im Handelsblatt: Ein gemeinsamer Kapitalmarkt würde die EU konkurrenzfähiger machen (handelsblatt.com), 2019.
5 High Level Forum on Capital Markets Union: A new vision for Europe’s capital markets, 2020.
6 The Guardian: Jeremy Hunt to unveil pension fund reform plan to help UK startups | Pensions industry, 2023.
Rechtliche Hinweise
Die in diesem Dokument enthaltenen Informationen und zum Ausdruck gebrachten Meinungen geben die Einschätzungen des Verfassers zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wieder und können sich jederzeit ohne vorherige Ankündigung ändern. Angaben zu in die Zukunft gerichteten Aussagen spiegeln die Ansicht und die Zukunftserwartung des Verfassers wider. Die Meinungen und Erwartungen können von Einschätzungen abweichen, die in anderen Dokumenten der Flossbach von Storch SE dargestellt werden. Die Beiträge werden nur zu Informationszwecken und ohne vertragliche oder sonstige Verpflichtung zur Verfügung gestellt. (Mit diesem Dokument wird kein Angebot zum Verkauf, Kauf oder zur Zeichnung von Wertpapieren oder sonstigen Titeln unterbreitet). Die enthaltenen Informationen und Einschätzungen stellen keine Anlageberatung oder sonstige Empfehlung dar. Eine Haftung für die Vollständigkeit, Aktualität und Richtigkeit der gemachten Angaben und Einschätzungen ist ausgeschlossen. Die historische Entwicklung ist kein verlässlicher Indikator für die zukünftige Entwicklung. Sämtliche Urheberrechte und sonstige Rechte, Titel und Ansprüche (einschließlich Copyrights, Marken, Patente und anderer Rechte an geistigem Eigentum sowie sonstiger Rechte) an, für und aus allen Informationen dieser Veröffentlichung unterliegen uneingeschränkt den jeweils gültigen Bestimmungen und den Besitzrechten der jeweiligen eingetragenen Eigentümer. Sie erlangen keine Rechte an dem Inhalt. Das Copyright für veröffentlichte, von der Flossbach von Storch SE selbst erstellte Inhalte bleibt allein bei der Flossbach von Storch SE. Eine Vervielfältigung oder Verwendung solcher Inhalte, ganz oder in Teilen, ist ohne schriftliche Zustimmung der Flossbach von Storch SE nicht gestattet.
Nachdrucke dieser Veröffentlichung sowie öffentliches Zugänglichmachen – insbesondere durch Aufnahme in fremde Internetauftritte – und Vervielfältigungen auf Datenträger aller Art bedürfen der vorherigen schriftlichen Zustimmung durch die Flossbach von Storch SE.
© 2024 Flossbach von Storch. Alle Rechte vorbehalten.