06.04.2023 - Kommentare

Kreative Zerstörung der Ungleichheit

von Agnieszka Gehringer


Oft wird behauptet, technologischer Fortschritt sei ein wesentlicher Treiber einer steigenden Einkommensungleichheit. Die Schere zwischen Arm und Reich steige dadurch. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Die Erklärung von mehr Ungleichheit durch technologischen Fortschritt ist verführerisch simpel. Neuen Produktionstechnologien begünstigen die besser qualifizierten Personengruppen und lassen die weniger qualifizierten zurück. Letztere würden sogar aus dem Arbeitsmarkt verdrängt, weil viele ihrer Aufgaben durch automatisierte Abläufe ersetzt werden könnten. Da die Arbeit schließlich dafür entlohnt wird, was und wie gut der Arbeiter sie leistet, bekämen die Qualifizierten tendenziell höhere Löhne als die weniger Qualifizierten. So würde der höherer Qualifikation benötigende technologische Fortschritt (in der wissenschaftlichen Literatur bekannt als skill-biased technological change) dafür sorgen, dass sich zumindest der Teil des Nationaleinkommens, welches den Arbeitskräften zusteht, ungleich in der Bevölkerung verteilt.

Auf den ersten Blick mag die Hypothese überzeugend klingen, zumal die Belege dafür auf der Hand zu liegen scheinen. Die am häufigsten zitierte Quelle des qualifikationsintensiven technologischen Fortschritts ist die Einführung des Personal Computers und der damit verbundenen Informations- und Telekommunikationstechnologien – mitsamt dem Internet – in den 1980er und 1990er Jahren. Es genügt, an den Aufstieg der heutigen Technologie-Riesen, wie Apple, IBM oder Windows zu denken. Zur ungefähr gleichen Zeit stieg die Ungleichheit in der Lohnverteilung, besonders in den USA, aber auch in vielen anderen, überwiegend entwickelten Volkswirtschaften. Das sogenannte College-Premium – gemessen am Verhältnis der Löhne von Hochschulabsolventen und von Absolventen der Mittelstufe – wuchs in den USA zwischen 1979 und 1995 um über 25 Prozent.

Obwohl diese Erzählung bei vielen Mainstreamökonomen und Fachexperten zu dominieren scheint, stößt sie auf nicht unerhebliche Gegenargumente, wenn man einen Blick über den Tellerrand hinaus zu den Überlegungen von Joseph Schumpeter hebt. Eine Neubewertung des Schumpeter'schen geistigen Erbes zeigt, dass der technologische Fortschritt die Einkommensungleichheit insbesondere durch die Verringerung der Unterschiede in der Verteilung der Einkünfte aus Kapitalbesitz und Arbeit beeinflusst. Dabei spielen das Unternehmertum und seine Innovationskraft eine essenzielle Rolle. Denn die Einführung von Innovationen, besonders wenn sie radikal sind, entfaltet Kräfte der kreativen Zerstörung, die Teile des vorhandenen, durch die Innovationen obsolet gewordenen Kapitals, vernichten kann.

„Nicht nur in jener Epoche jedoch, die die Anfänge dieses sozialen Prozesses noch nicht kannte, sondern auch heute noch ist die Unternehmerfunktion nicht nur das Vehikel fortwährender Umorganisierung der Wirtschaft, sondern auch das Vehikel fortwährender Veränderung der Elemente, aus denen die obern Schichten der Gesellschaft bestehen. Der erfolgreiche Unternehmer steigt sozial, mit ihm die Seinen, denen die Resultate seines Erfolgs eine von persönlichem Tun nicht unmittelbar abhängige Basis geben. Dieses Steigen stellt den wichtigsten Auftrieb in der kapitalistischen Welt dar. Weil es im Weg des Niederkonkurrierens alter Betriebe vor sich geht und damit auch der mit diesen verknüpften Existenzen, so entspricht ihm immer ein Prozeß des Sinkens, der Deklassierung, der Eliminierung.“1

Allein die Oberschichten der Gesellschaft gleichen Gasthöfen, die zwar immer voll von Leuten sind, aber von immer andern (…).“2

Die Aktionäre der etablierten Unternehmen, die von neuen aus den Produktmärkten gedrängt werden, erleiden Verluste, die ihr Vermögen schmälern.3 Der technologische Fortschritt ist daher in der Lage, durch die Angleichung der Vermögensverteilung die Einkommensasymmetrien zu verringern.

Nicht nur deshalb also, weil jeder individuelle Unternehmergewinn versiegt und der Mechanismus der Konkurrenzwirtschaft keine dauernden Mehrwerte duldet, vielmehr durch eben jenen Stimulus des Gewinnstrebens vernichtet, der seine treibende Kraft ist; sondern schon deshalb, weil im Normalfall die Dinge so vor sich gehen, daß sich der Erfolg des Unternehmers im Besitz eines Betriebs konkretisiert und dieser Betrieb von den Erben kreislaufmäßig weitergeführt zu werden pflegt, bis ihn neue Unternehmer verdrängen.“4

Die heilende Wirkung der kreativen Zerstörung ist umso stärker, desto radikaler die Innovationen sind und je öfter sie durch „Newcomer“ statt etablierte Unternehmen generiert werden. Nach Schumpeter bestehen Innovatoren aus „Leuten, die sich in viel höherm Maß aus den Tiefen rekrutieren als viele unter uns wahrhaben wollen.“5 So war die Entstehung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Biotechnologien seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie das Ergebnis von dynamischen Startup-Gründungen. Man denke nur an Bill Gates, Steve Jobs, Jeff Bezos – oder im 21. Jahrhundert an das Ehepaar Sahin.

Die radikalen Innovationen von frisch gebackenen Unternehmern sind in der Tat das Geheimrezept, mit dem die etablierten und erfahrenen Unternehmer herausgefordert und sogar aus dem Markt verdrängt werden können. Denn der Markteintritt von Innovatoren führt zu einem Anstieg der Marktrivalität und einem Abbau der Markteintrittsbarrieren. Dadurch werden zusätzliche Gewinne abgeschöpft und die Dauer von Monopolrenten der etablierten Unternehmen verkürzt. Die Kürzung der Höhe und der Dauer der Monopolrenten verringert die an die Aktionäre der etablierten Unternehmen gezahlten Dividenden und damit die Einkommensungleichheit.

Schließlich wirkt sich der technologische Fortschritt auch auf die Entlohnung von Arbeit aus. Denn der technologische Fortschritt trägt zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität bei.

Gewiß haben die produzierten Produktionsmittel die Fähigkeit, zur Güterproduktion zu dienen. Man kann sogar mit ihnen mehr Güter erzeugen, als ohne sie. Und diese Güter haben auch höhern Wert als jene, die man ohne die produzierten Produktionsmittel erzeugen könnte. Aber dieser höhere Wert muß auch höhern Wert der Produktionswerkzeuge und dieser wiederum höhern Wert der verwendeten Arbeits- und Bodenleistungen zur Folge haben.“6

Dadurch steigen nicht nur die Löhne, sondern auch die Ersparnisse der Arbeitnehmer, die in Kapitalbeteiligungen angelegt werden können. Dies führt nicht nur zu einer breiteren Verteilung von Einkommen, sondern auch von Vermögen.

Warum ist also die Einkommensungleichheit in den letzten Dekaden dennoch angestiegen? Ist die heilende Wirkung der kreativen Zerstörung ein Mythos? Ganz im Gegenteil. Die kreative Zerstörung kann zur Heilung beitragen, vorausgesetzt sie ist tatsächlich kreativ, erfolgt also durch Innovation. Ohne Innovationen ist die Zerstörung destruktiv. Durch Abschreibung allein wird der ökonomische Wert des in der Vergangenheit akkumulierten Kapitalstocks immer geringer. Mit den Einkünften der Kapitalbesitzer sinken auch die Arbeitslöhne. Es beginnt ein Kampf um die Verteilung von Verlusten, in dem die Kapitalbesitzer versuchen, ihre Verluste auf die Arbeitskräfte abzuwälzen. Karl Marx sprach von ruinöser Konkurrenz und Verelendung des Proletariats. Doch wer diesen Kampf gewinnt, ist in Wirklichkeit unklar.

Andererseits ist die Verlangsamung des Produktivitätswachstums aufgrund eines Mangels an wirksamer Umsetzung von Innovationen seit den 1980er Jahren unbestritten.7 Die Zerstörung war destruktiv statt kreativ, da es ihr an Treibstoff in Form von Innovationen fehlte.

Natürlich treiben auch andere Einflüsse die Einkommensungleichheit. Dazu gehören die Globalisierung, die Finanzialisierung der Wirtschaft und die allgegenwertige Inflation. Durch Finanzialisierung – also die Aufblähung des Finanzsektors – werden Finanzrenditen, ohne Schaffung von Realwerten und Innovationen ermöglicht.8 Es kommt zur Konzentration von Finanzvermögen. Durch ihre jahrelange Niedrigzinspolitik haben die Zentralbanken die Bewertung von Finanzaktiva aufgebläht und zu dieser Vermögenskonzentration beigetragen.

Technologischer Fortschritt ist also kein Patentrezept für geringere Ungleichheit. Aber er hilft, sie zu verringern. Das wird leider zu oft übersehen.


1 Schumpeter, J.A., 1911, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin: Dunker & Humblot, 7. Auflage S., 238.

2 Ibid, S. 239. 

3 Antonelli, C. und Gehringer, A., 2017, Technological change, rent and income inequalities: A Schumpeterian approach, Technological Forecasting and Social Change 115, S. 85-98.

4 Schumpeter, J.A., 1911, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin: Dunker & Humblot, 7. Auflage, S. 238.

5 Ibid, S. 239.

6 Ibid, S. 262

7 Siehe Akcigit, U. und Sina, A., 2021, Ten Facts on Declining Business Dynamism and Lessons from Endogenous Growth Theory, American Economic Journal: Macroeconomics 13(1), 257-298, und Antonelli, C. und Gehringer A., 2017, Technological change, rent and income inequalities: A Schumpeterian approach. Technological Forecasting and Social Change 155, 85-98.

8 Mayer, T., 2018, Auf dem „Dritten Weg“ in die „Finanzialisierung“, Flossbach von Storch Research Institute, Vortrag bei der Bundesfachkommission Europäische Finanzmarkt- und Währungspolitik des Wirtschaftsrats der CDU, Berlin, 1. Februar 2018.

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