17.08.2023 - Kommentare
Das Finanzministerium bat eine Fokusgruppe aus Wissenschaftlern und Interessenvertretern um einen Vorschlag zur Reform der Altersvorsorge in Deutschland. Die Gruppe befürwortet in ihrem Abschlussbericht eine privatwirtschaftliche Lösung anstatt eines kapitalbildenden Staatsfonds. Auf Kapital- und Rentengarantien soll seitens der Sparer verzichtet werden können. Wir fassen die Empfehlungen zusammen und ordnen ein.
Im Januar dieses Jahres enthüllte die Bundesregierung unter dem Begriff Aktienrente ihre Pläne zur Bildung eines kollektiven Kapitalstocks innerhalb der gesetzlichen Rente. Danach rückte die Kapitalbildung des Einzelnen in den Mittelpunkt. Eine vom Finanzministerium Anfang des Jahres eingesetzte Fokusgruppe aus Wissenschaftlern und Interessenvertretern hat jetzt ihre Ergebnisse vorgestellt. Drei Empfehlungen für die Neuordnung der privaten Altersvorsorge stechen daraus hervor:
Einen Staatsfonds, wie in Schweden oder Norwegen, soll es also nach dem Willen der Kommission in Deutschland nicht geben. Stattdessen wird eine private Vorsorge mit (staatlich) zertifizierten Produkten angeregt. Diese Produkte sollen die Möglichkeit zum Garantieverzicht in Anspar- und Auszahlungsphase beinhalten sowie steuerlich gefördert werden. Die Kosten der Produkte sollen durch einen Zertifizierungsprozess überwacht werden.
Im Detail widersprechen sich zwar einige Empfehlungen zur Regulatorik, im Großen und Ganzen überzeugt uns die Arbeit der Experten jedoch. Die einzelnen Vorschläge sind nachvollziehbar. Aufgabe der Politik ist es nun aus dem Bericht der Kommission ein gesellschaftlich akzeptiertes Konzept zu erstellen.
Sollte Deutschland einen öffentlich verwalteten Fonds zur Altersvorsorge nach schwedischem oder norwegischem Vorbild einrichten? Die Kommission hat die verschiedenen Argumente in ihrem Bericht gegeneinander abgewogen und spricht sich mehrheitlich gegen einen Staatsfonds aus. Die Mehrheit der Mitglieder glaubt private Lösungen seien vergleichbar effizient zu einem Staatsfonds, hätten aber den Vorteil keine implizite Staatsgarantie zu beinhalten. Anhänger der Mindermeinung sehen den provisionsgestützten Vertrieb privater Lösungen als systemische Ursache hoher Verwaltungskosten.
Eine kapitalgedeckte Altersvorsorge für jedermann kann mit oder ohne Staatsfonds organisiert werden. Ein genauer Blick auf das schwedische Modell zeigt, dass sogar eine Mischform funktioniert. Wird die private Lösung bevorzugt, muss Wettbewerb dafür sorgen, dass die Produkte kostengünstig angeboten werden. Damit Wettbewerb zu Stande kommt, muss die Regulierung die Eintrittsbarrieren für neue Anbieter so gering wie möglich halten. Bei der Riesterrente hat die Verpflichtung zu einer Kapitalgarantie Versicherungen bevorzugt und Fondsanbieter abgeschreckt.
Auf Beitragsgarantien und Mindestverzinsung in der Ansparphase soll zukünftig vom Sparer verzichtet werden können. In der Rentenbezugsphase sollen neben der lebenslang garantierten Rente auch abgekürzte oder schwankende Rentenzahlungen möglich sein. Der Sparer bekommt nach dem Willen der Kommission weit größere Handlungsspielräume als in der Riester-Rente. Ein fundamentaler Richtungswechsel, der nicht ohne Risiken ist, aber für mehr Wettbewerb und damit kostengünstigere Angebote sorgt.
Ein Verzicht auf Beitragsgarantien und Mindestverzinsung in der Ansparphase ist Konsens unter Experten: Die Riester-Rente hat gezeigt, wie mager Renditen ausfallen, wenn Kapitalgarantien erfüllt werden müssen.1 Bei niedrigen Zinsniveaus ist kaum mehr als nominaler Vermögenserhalt möglich. Im aktuellen Umfeld gibt es wieder höhere Zinsen, aber diese werden durch die Inflation aufgezehrt. Realer Vermögenserhalt findet nicht statt. Dem gegenüber findet sich in der Historie des amerikanischen Aktienindex S&P 500 keine 20-jährige Periode, in der negative Realrenditen erwirtschaftet wurden.2 Dies ist keine Garantie für die Zukunft. Aber erfüllt sich das Versprechen auf Kaufkrafterhalt zukünftig nicht, werden auch Garantien des nominalen Kapitalerhalts wohl kaum das Papier Wert sein auf dem sie geschrieben stehen. Bei adverser wirtschaftlicher Entwicklung wird es schlicht an Erträgen zur Bedienung der Garantien fehlen. Sachwertbasierte Investments sind daher die beste Option.
Ein Argument für einen Staatsfonds ist die Möglichkeit der staatlichen Garantie einer Mindestauszahlungsphase und -höhe. Die Notwendigkeit solcher Garantien ist umstritten. Der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV), Maximilian Happacher, spricht sich gegen einen kompletten Garantieverzicht in der privaten Altersvorsorge aus. Er sieht die Gefahr von Altersarmut, wenn es kein Sicherheitsnetzt gibt.3 Für die Kommission steht die zusätzliche Flexibilität, welche durch mögliche Alternativen zu lebenslangen Leibrenten entstehen, im Vordergrund.
Die Kosten für Auszahlungsgarantien sind hoch: 1000 Euro private Rente im Monat schmelzen auf ca. 900 Euro zusammen, wenn ausreichend Sicherheitszuschläge für Veränderungen der Sterblichkeit vorgehalten werden. Dazu zwingen garantierte Mindestrenten in der Auszahlungsphase zu konservativer Kapitalanlage und mindern die Rente zusätzlich. Ein Prozentpunkt weniger Rendite pro Jahr verringert die monatliche Rente um 100 Euro.4 Mit einer konservativ geschätzten Risikoprämie von Aktien von 3 Prozentpunkten5 kostet die vollständige Absicherung von Langlebigkeit und garantierter Rentenhöhe in Summe 400 Euro. Übrig bleiben zunächst 600 Euro. Selbst wenn man davon ausgeht, dass nicht benötigte Sterblichkeitsreserven im Laufe der Rentenbezugszeit größtenteils an die Versicherungsnehmer ausgeschüttet werden, erreicht man nicht mehr als 700 Euro Rente.
Doch die Lebensumstände jedes Vorsorgers unterscheiden sich. Manche können mit dem Risiko einer geringeren Auszahlung leben, wenn es dafür die Chance auf eine höhere Rendite gibt. Andere kommen möglicherweise zu einer anderen Abwägung zwischen Chance und Risiko. Bei der (nach gesetzlicher Rente und Betriebsrente) „dritten Säule“ der Altersvorsorge sollte die Abwägung von Chance und Risiko dem Sparer überlassen statt vom Staat geregelt werden.
Die Übergabe des Sparprozesses in die Hände der Privatwirtschaft verknüpft die Kommission mit regulatorischen Empfehlungen: Die zugehörigen Produkte sollten möglichst einfach, transparent und kostengünstig sein. Dies fördert den Wettbewerb unter den Anbietern. Der Politik wird zusätzlich eine nachgelagerte Besteuerung und Zulagen für Geringverdiener ins Aufgabenheft geschrieben. Kostenersparnisse, so das Kalkül der Kommission, entstehen durch Senkung der Bürokratie- und Produktanforderungen. Ein noch genauer zu definierender Zertifizierungsprozess soll dies sicherstellen.
Verglichen mit der regulatorischen Komplexität der Riester-Rente, dem letzten Versuch private Altersvorsorge in Deutschland staatlich zu fördern, liegt die Messlatte für einfachere und günstigere Produkte sehr niedrig. Ein Selbstläufer ist es gleichwohl nicht. Steuerliche Rahmenbedingungen und Zulagen werden von der Politik gerne bis ins letzte Detail ausdifferenziert. Das gut gemeinte Ziel dahinter ist eine „für alle faire“ Lösung.
Die Förderung von Geringverdienern und Familien ist wichtig. Aber allzu leicht überschreitet man beim Versuch Benachteiligungen auszugleichen die feine Linie zwischen gut gemeint und gut gemacht. Es entsteht ein Regulierungsdschungel, von dem auch diejenigen profitieren, die in der Lage waren ihre Interessen über Lobbyarbeit einfließen zu lassen – nicht notwendigerweise nur die Bedürftigen. Der aktuelle politische Trend, den Bürger vor jedem allgemeinen Lebensrisiko zu schützen, erschwert simple Lösungen zusätzlich.6 Das schadet dem Wettbewerb.
Von den etablierten Banken und Versicherern darf die Politik indes keine Hilfe erwarten. Je komplizierter die Regulatorik, umso höher die Eintrittsbarrieren für neue Unternehmen. So bleibt der Kreis der Anbieter klein und der Wettbewerb gering. Für existierende Marktteilnehmer ist dies eine komfortable Situation. Dazu kommt: je komplizierter ein Produkt, desto besser lassen sich höhere Kosten rechtfertigen. Und sind die regulatorischen Rahmenbedingungen zu komplex, versagt auch die effizienteste Zertifizierungsstelle.
Die ESG-Zertifizierung dient als warnendes Beispiel: Am Anfang stand der politische Entschluss, dem Bürger bei nachhaltigen Anlageentscheidungen zu helfen. Daraus entstand ein Geflecht aus Regelungen, welches selbst für Experten kaum durchschaubar war und teils widersprüchliche Ergebnisse lieferte.7 Die Anbieter der zertifizierten Fonds strichen bei ESG konformen ETFs höhere Gebühren ein.8 Mittlerweile wird Etikettenschwindel, neudeutsch „Greenwashing“, offenkundig. Die Reaktion der Politik: eine stärkere Regulierung der ESG-Rating-Unternehmen.
Damit die Reform nicht an Überregulierung scheitert, stehen Politik und Finanzwirtschaft in der Pflicht: Die Politik muss simple Steuer- und Zulagenregelungen treffen und einfache Leitplanken für die Produktentwicklung aufstellen. Die Finanzindustrie muss Produkte liefern, welche verständlich und in der Kostenstruktur transparent sind. Die großen Erfolge der Deregulierung um die Jahrtausendwende bei Telekommunikation, Post und Energieversorgung sollten der Politik als Vorbild dienen. Wo Wettbewerb herrscht, wird gute Qualität zu erschwinglichen Preisen geboten.
Die Fokusgruppe zeigt der Politik in ihrem Abschlussbericht Wege auf, die kapitalbildende Altersvorsorge zu stärken. Im Angesicht des demografischen Wandels und der Belastungen der gesetzlichen Rentenkasse ist dies ein wichtiger Schritt.
In der konzeptionellen Grundsatzfrage eines Staatsfonds schuf die Kommission eine Entscheidungsgrundlage inklusive Empfehlung – gut so. Die für deutsche Verhältnisse revolutionären Vorschläge zum Verzicht auf Garantien könnten eine Zeitenwende in der Anlagekultur herbeiführen. Altersvorsorge und Aktien werden momentan nur von wenigen Deutschen in einem Atemzug genannt. Die Notwendigkeit der Abwägung von Chance und Risiko bei der Altersvorsorge mögen manche für eine Zumutung halten. Doch dahinter steht ein paternalistisches Verständnis des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger, das in einer liberalen Demokratie keinen Platz haben sollte.
Bei Kosten und steuerlicher Förderung gilt es für Politik und Anbieter Handlungsfähigkeit zu zeigen und verspieltes Vertrauen zurückzugewinnen. Riester-Rente und Greenwashing haben das Vertrauen der Bevölkerung in einen paternalistisch agierenden Staat und eine willfährige Industrie angekratzt. Es ist Zeit dem Bürger das Heft des Handelns zurückzugeben und zu zeigen, dass man die Kommission nicht nur beauftragt hat, sondern auch entsprechend ihrer Empfehlungen handeln möchte.
2 Macrobond, S&P/Robert Shiller, Flossbach von Storch Research Institute
4 Sandra Blome, Alexander Kling, Jochen Ruß: Annuity Pools – Wackelrente oder sinnvolle Produktinnovation? und Sven Ebert: Private Rente, Anleihen oder Umkehrhypothek – wie teilt man sich sein Kapital im Alter ein? - Flossbach von Storch Research Institute
5 Prof_Stehle_Die_Risikopraemie_von_Aktien_in_den_letzten_118_Jahren.pdf (eberbacher-kreis.de)
6 Sven Ebert: Der deutsche Versicherungsstaat - Flossbach von Storch Research Institute
7 Christoph Schürmann: Im ESG-Dschungel - Flossbach von Storch Research Institute und Kai Lehmann: Nachhaltig? Ja…Nein…Vielleicht! Zur mangelnden Vergleichbarkeit von ESG-Ratings - Flossbach von Storch Research Institute
8 European Securities and Markets Authority: Performance and Costs of EU Retail Investment Products
29.09.2022 - Gesellschaft & Finanzen
von Sven Ebert
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