12.07.2024 - Kommentare
Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron hat am Mittwochabend nach dem zweiten Wahlgang zur französischen Nationalversammlung vom 7. Juli 2024 in einem offenen Brief an die Bürgerinnen und Bürger Frankreichs „appellativisch“ behauptet, daß niemand die Wahl gewonnen habe. Diese Behauptung ist insofern nicht falsch, als keine Partei und kein Parteienbündnis eine absolute Mehrheit an Mandaten in der Nationalversammlung erhalten hat.1 Macrons Behauptung verkürzt jedoch die Wahrheit insoweit, als sehr wohl Parteien und Parteienbündnisse im Vergleich zur Wahl im Jahr 2022 Mandate gewonnen haben. Das gilt insbesondere für den Rassemblement National (RN), der sich nach dem ersten Wahlgang aufgrund des Mehrheitswahlrechts durchaus Hoffnungen machen konnte, zusammen mit verbündeten Republikanern eine absolute Mehrheit an Mandaten erringen zu können. Das wurde durch taktische Wahlabsprachen ihrer Konkurrenten in den Wahlkreisen und durch eine historisch hohe Wahlbeteiligung – und damit durch eine Mehrheit der Bürger selbst – erfolgreich verhindert.
Macrons Äußerung zielt also nicht auf die korrekte Wiedergabe des Wahlergebnisses, sondern hat eine appellative Funktion. Durch seine Äußerung soll eine Situations- und Verhaltensänderung herbeigeführt werden. Macron hat das Ziel einer bürgerlichen Regierung ohne rechte und linke Extremisten und hofft, einerseits die Teile der Republikaner, die sich zu einem Wahlbündnis mit dem RN verbunden haben, aus diesem Bündnis herauszulösen und andererseits die Sozialisten und Grünen aus dem Linksbündnis der sogenannten Neuen Volksfront zu sprengen. Macron hat bereits angekündigt, einen möglichen Kandidaten der Volksfront nicht als Premierminister ernennen zu wollen. Bis eine neue Regierung von Emmanuel Macron berufen wird, bleibt die alte Regierung geschäftsführend im Amt. Je länger diese Geschäftsführung andauert, desto größer dürfte nach Macrons Kalkül die Wahrscheinlichkeit sein, daß diese Herauslösungen gelingen und sei es auch nur für einzelne Gesetzesvorhaben.
Daß Präsident Emmanuel Macron keine Eile hat, eine neue Regierung zu berufen, liegt auch daran, daß er nicht erst bei den jetzigen Wahlen die absolute Mehrheit in der Nationalversammlung verloren hat, sondern bereits 2022. Bereits bei den Wahlen im Juni 2022 konnten der Rassemblement National unter Führung von Marine Le Pen und das Linksbündnis NUPES unter Führung von Jean-Luc Mélenchon, das aus den gleichen Parteien bestand wie heute die Neue Volksfront, erhebliche Gewinne erzielen, so daß Macrons Wahlbündnis die absolute Mehrheit verfehlte. Da das Linksbündnis NUPES aus Linkspartei, Grünen, Kommunisten und Sozialisten schnell wieder zerfiel, weil die bei den Wahlen vereinten Parteien damals keine Fraktionsgemeinschaft eingehen wollten, stellte der Rassemblement National unter Marine Le Pen sogar die stärkste Oppositionsfraktion im französischen Parlament. Da Präsident Emmanuel Macron seine absolute Mehrheit im Parlament verloren hatte, benötigte er seitdem für die Durchsetzung weiterer Gesetzes- und Reformvorhaben die Unterstützung anderer Parteien und setzte dabei primär auf die Republikaner. Grundsätzlich hat sich für ihn durch die von ihm am Wahlabend der Europawahl ausgerufenen Neuwahlen also nichts verändert. Sein Problem, das er durch die Neuwahl lösen wollte, wurde jedoch erheblich vergrößert, weil er nun noch mehr Mandatsträger anderer Parteien für Gesetzesvorhaben gewinnen muß.
Um zu erkennen, daß diese Lage Macrons Interesse, schnell eine neue Regierung zu berufen, nochmals verringert, er sogar im Extremfall versucht sein könnte, seine geschäftsführende Regierung bis zu frühestens möglichen neuen Neuwahlen Ende Juni oder Anfang Juli 2025 im Amt zu belassen, muß eine französische Besonderheit zur Verabschiedung von Gesetzen betrachtet werden.
Egal ob eine Regierung eine absolute Mehrheit im Parlament hat oder nicht, werden umstrittene Gesetzesvorhaben oftmals nicht per Abstimmung über diese Gesetzesvorlage verabschiedet, sondern unter Zuhilfenahme des Artikels 49-3 der französischen Verfassung. Der Artikel 49-3 erlaubt es dem Premierminister, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament in Kraft zu setzen, indem er dieses Gesetz mit der Vertrauensfrage verbindet. Ein derartiges Gesetz gilt als angenommen, wenn nicht innerhalb von 24 Stunden ein Mißtrauensantrag gegen den Premierminister in der Nationalversammlung von mindestens einem Zehntel der Mitglieder der Nationalversammlung eingebracht wird und dann frühestens 48 Stunden nach Einbringung mit der Mehrheit der Mitglieder der Nationalversammlung angenommen wurde. Abgeordnete, die mit dem konkreten Gesetzesvorhaben nicht einverstanden sind, aber die Regierung nicht stürzen wollen, werden durch dieses Verfahren nach Artikel 49-3 disziplinierend eingefangen. Ziel ist die Aufrechterhaltung der Regierungsfähigkeit.
Die neue Mandatsverteilung in der französischen Nationalversammlung dürfte die Erreichung dieses Zieles jedoch enorm erschweren, weil alle drei großen Blöcke weit entfernt von der absoluten Mehrheit sind. Die Erreichung einer Mehrheit über die direkte Abstimmung über eine Gesetzesvorlage ist unwahrscheinlich. Und der Versuch über Artikel 49-3 ein Gesetz in Kraft zu setzen, dürfte sofort scheitern, weil sich zu wenige Abgeordnete zur Regierung bekennen. Eine neue Regierung wäre deshalb schneller am Ende als im Amt.
Sollte beispielsweise die Neue Volksfront diesmal halten und eine gemeinsame Fraktion in der Nationalversammlung bilden, dann wäre diese Fraktion mit 178 Abgeordneten zwar die größte Fraktion im Parlament. Die absolute Mehrheit beträgt bei einer Gesamtzahl von Abgeordneten jedoch 289 Abgeordnete. Ein Premierminister der Volksfront würde höchstwahrscheinlich kein nur halbwegs wichtiges Gesetz durch das Parlament bringen. Die Wahrscheinlichkeit, die eigenen 178 Abgeordneten bei der Stange zu halten und zusätzlich mindestens 111 Abgeordnete aus anderen Reihen zu gewinnen, ist nicht sehr hoch. Wird dann der Artikel 49-3 gezogen, stellt sich die gleiche Frage. Woher will eine linke Volksfrontregierung 111 Abgeordnete gewinnen, die ihr das Vertrauen aussprechen.
Bezüglich einer Regierung, die von den anderen Blöcken gestellt wird, besteht das gleiche Problem. Die in der Presse derzeit diskutierte Variante, daß Macron einen Premierminister ernennt, der von seinem Wahlbündnis und von den Republikanern getragen wird, so daß man zusammen größer ist als die Volksfront, geht nur auf, wenn der Rassemblement National sich bei Vertrauensabstimmungen nach Artikel 49-3 zumindest enthält. Aber warum sollte der Rassemblement National so handeln? Dazu müßte ihm etwas angeboten werden. Macron müßte also sein Ziel, nicht mit den rechten und linken Rändern zusammenzuarbeiten, bezüglich der rechten Ränder aufgeben.
Macrons Versuch, auf Zeit zu spielen, um so sowohl den rechten als auch den linken Wählerblock aufzusprengen, ergibt deshalb Sinn. Und wenn zu befürchten ist, daß eine neue Regierung schneller am Ende ist als im Amt, dann könnte es zudem sinnvoll sein, die geschäftsführende Regierung möglichst lange im Amt zu belassen und es bei den Gesetzesvorhaben mit wechselnden Mehrheiten zu versuchen.
Daß dadurch die verfassungspolitischen Ziele der Fünften Republik verändert, wenn nicht sogar aus den Fugen gehoben werden, ist nicht unwahrscheinlich. Es könnte de facto eine Sechste Republik entstehen,2 allerdings durch Auszehrung der bisherigen Regeln und nicht durch Verfassungsänderungen. Denn Verfassungsänderungen sind bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen noch unwahrscheinlicher als neue stabile Regierungen.
Nach Artikel 89 der französischen Verfassung steht die „Initiative zur Änderung der Verfassung (…) sowohl dem Präsidenten der Republik auf Vorschlag des Premierministers als auch den Mitgliedern des Parlaments zu. Der Änderungsentwurf oder -vorschlag muss von den beiden Kammern in den (…) festgelegten Fristen geprüft und im gleichen Wortlaut verabschiedet werden. Nach Zustimmung durch einen Volksentscheid ist die Verfassungsänderung endgültig. Der Änderungsentwurf wird jedoch nicht zum Volksentscheid gebracht, wenn der Präsident der Republik beschließt, ihn dem als Kongress einberufenen Parlament vorzulegen. In diesem Fall gilt der Änderungsentwurf nur dann als angenommen, wenn er eine Mehrheit von drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt.“
Beachtet werden sollte, daß der Premierminister dem Präsidenten eine Verfassungsänderung vorschlagen muß. Der Präsident oder die Präsidentin kann nicht vollkommen allein die Initiative ergreifen, was in Fällen der sogenannten Kohabitation politisch höchst relevant ist.
Wo die entsprechenden Mehrheiten in der Nationalversammlung und im Senat zur Initiierung eines Verfassungsreferendums derzeit herkommen sollen, ist ebenso unklar wie das Zustandekommen einer Mehrheit von drei Fünfteln der abgegebenen Stimmen in einem zum Kongreß einberufenen Parlament. Wenn sich in Frankreich also eine Sechste Republik entwickeln sollte, dann nicht über geregelte Verfahren.
Wie die Bevölkerung auf diese verfahrene Situation reagieren wird, könnte entscheidend werden. Politische Streiks sind in Frankreich erlaubt. Die Gelbwestenproteste sind allen noch in Erinnerung. Die historisch hohe Wahlbeteiligung im zweiten Wahlgang der Parlamentswahl zeigt, daß eine Mehrheit der Franzosen eine Regierung des Rassemblement National immer noch verhindern will. Ob das bei der nächsten Wahl zur Nationalversammlung auch noch so sein wird, hängt davon ab, ob es Emmanuel Macron jetzt gelingt, sowohl den rechten als auch den linken Wählerblock aufzusprengen.
Die nächste Wahl zur Nationalversammlung könnte schon im Juni oder Juli 2025 stattfinden. Vielleicht ist bis dahin die derzeitige geschäftsführende französische Regierung immer noch im Amt. Und vielleicht sind bis dahin die wichtigsten Gesetze mit wechselnden Mehrheiten verabschiedet worden. Die Verabschiedung eines Haushalts wird die größte Herausforderung darstellen. Ein Sparhaushalt ist dementsprechend unwahrscheinlich. Aber vielleicht ist ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten das kommende Regierungsmodell und das Stabilste, was in Frankreich zur Zeit möglich ist.
Daß durch diese Regierungsweise die Neuverschuldung eingedämmt werden kann, ist unwahrscheinlich. Und wie die Europäische Kommission im laufenden Defizitverfahren und der Anleihemarkt darauf reagieren werden, wird uns noch beschäftigen.
1 Siehe das amtliche Endergebnis des französischen Innenministeriums unter: https://www.resultats-elections.interieur.gouv.fr/legislatives2024/ensemble_geographique/index.html
2 Die Vierte Republik in Frankreich wird von 1944 bis 1958 datiert und die Fünfte Republik ab 1958, wobei es nach der Ära von de Gaulle (1958 bis 1969) erhebliche Veränderungen gab. Siehe dazu Stefan Martens: „Frankreich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“, in: Geschichte Frankreichs, von Heinz-Gerhard Haupt, Ernst Hinrichs, Stefan Martens, Heribert Müller, Bernd Schneidmüller, Charlotte Tacke, herausgegeben von Ernst Hinrichs, Stuttgart (Reclam) 2014, S. 424-500.
01.07.2024 - Wirtschaft & Politik
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