08.10.2024 - Kommentare

EZB, Fed und die versteckten Inflationsrisiken

von Gunther Schnabl


Die Welt ist erleichtert. Der Anstieg der Konsumentenpreise ist sowohl in Europa als auch in den USA deutlich zurückgegangen. Nach Spitzenwerten von 10,6 Prozent im Euroraum (Oktober 2022) und 9,1 Prozent (Juni 2022) in den USA, wurden im August 2024 in den USA 2,5 Prozent und im Euroraum im September noch 1,8 Prozent gemessen. In Deutschland sogar nur noch 1,6 Prozent.

Die Europäische Zentralbank bereits hat im Juni die Leitzinsen um 0,25 Prozentpunkte zurückgenommen, obwohl zu dieser Zeit das Inflationsziel von 2 Prozent noch nicht erreicht war. Im September folgten beim Zinssatz auf die Einlagenfazilität weitere 0,25, beim Hauptrefinanzierungssatz sogar 0,6 Prozentpunkte. US-Notenbankchef Jerome Powell hat im September mit 0,5 Prozentpunkten die Zinsen unerwartet stark gesenkt.

Weitere Zinssenkungen sind hier wie da signalisiert. EZB und Fed gehen also davon aus, dass die Inflation besiegt ist. Aus der Sicht von Bundesbankpräsident Joachim Nagel läuft die große Inflationswelle aus. Philipp Lane, Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, hat schon wieder Angst vor einer chronisch niedrigen Inflation. Und Jerome Powell will den Fokus seiner Politik stärker auf die Arbeitsmärkte richten. Dennoch könnten die Zentralbanker aus drei Gründen falsch liegen.

Erstens erfassen die Verbraucherpreisindizes nicht den gesamten Inflationsdruck. Im Euroraum sind Preissteigerungen bei eigengenutzten Immobilien, Kostensteigerungen bei öffentlichen Gütern wie Brücken und Gesundheitsversorgung sowie der Preisanstieg bei Vermögenswerten wie Aktien ausgeschlossen. Dass bei der Preismessung einseitig Qualitätssteigerungen bei Industriegütern zur Absenkung der Preise im Index führen, während Qualitätsverschlechterungen bei Dienstleistungen nicht höhere Preise bewirken, dürfte ein weiterer Grund für (unrealistisch?) niedrig gemessene Kaufkraftverluste sein.

In der Tat denken in den USA und in Deutschland viele Menschen, dass ihre Kaufkraft deutlich gefallen ist. Die gestiegenen Preise für Lebensmittel und Dienstleistungen wie in der Gastronomie schmerzen. Nicht ohne Grund macht in den USA Donald Trump mit dem Spruch „Speck ist durch die Decke!“ Wahlkampf. Die gefühlte Inflation im Euroraum lag im zweiten Quartal 2024 mit 13,1 Prozent weit über der offiziell gemessenen (siehe Abbildung 1). Ein weiterer Anstieg des Preisniveaus – wenn auch nur um 2 Prozent pro Jahr – bedeutet für die Menschen weitere Kaufkraftverluste.

Es verwundert deshalb nicht, dass die Gewerkschaften fordernd sind. "Die Inflationsrate mag sinken, aber dennoch bleiben für die Menschen die Preise an der Kasse weiter hoch."  hat die IG-Metall Vorsitzende Christiane Benner gesagt. In der Chemieindustrie, beim Handel und bei der Bahn haben die Gewerkschaften kräftig zugelangt. Dabei hilft, dass auf den – vom Staat – leergefegten Arbeitsmärkten die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer deutlich gewachsen ist. Mit den Lohnkosten steigen die Preise, was an weiter deutlich steigenden Dienstleistungspreisen (im September +3,8 Prozent) abzulesen ist.

Zweitens steckt noch viel Liquidität im Finanzsystem. Im Zuge der immensen Anleihekäufe und Hilfskredite der EZB in Finanz-, Staatsschulden- und Coronakrise sind die Einlagen der Geschäftsbanken beim Eurosystem drastisch angestiegen (siehe Abbildung 2). Die EZB hat ab Juli 2022 den Zins auf die Einlagenfazilität der Banken beim Eurosystem stark von -0,5 Prozent auf 4,0 Prozent im September 2023 angehoben, was den Banken beträchtliche risikolose Einnahmen auf diese Einlagen beschert hat. Die hohen Anleihebestände, die große Teile der Einlagen geschaffen haben, reduziert die EZB im Gegensatz zu den Hilfskrediten nur sehr zögerlich, was die Zinseinkünfte der Geschäftsbanken gestützt hat.

Doch nun senkt die EZB den Zins auf die Einlagenfazilität wieder. Er ist von 4,0 Prozent im September 2023 auf zuletzt 3,5 Prozent gefallen, und weitere Zinssenkungen sind signalisiert. Den Geschäftsbanken geht so eine wichtige Einnahmequelle verloren, die sie nur über mehr Kreditvergabe ausgleichen können. Ein wesentlicher Anstieg der Kreditnachfrage ist jedoch trotz sinkender Zinsen ungewiss. Die Unternehmen investieren aufgrund der steigenden Lohnstückkosten und der erratischen Wirtschaftspolitik der Regierung nicht. Die wuchernde Regulierung und wachsende Handelsschranken drücken auf die Gewinne und damit die Investitionsbereitschaft. Die Nachfrage nach Immobilien dürfte aufgrund der hohen Preise und der rigiden Regulierung verhalten bleiben.

Es ist deshalb wahrscheinlich, dass bei sinkenden Zinsen die Banken mehr Kapital ins Ausland exportieren werden, wo die Konjunktur besser läuft. Das Zinsniveau in Deutschland liegt immer noch deutlich unter den USA, was US-Staatsanleihen attraktiver macht. Beschleunigte Kapitalabflüsse würden zu einer Abwertung des Euros führen, die importierte Güter, insbesondere Rohstoffe und Energie, teurer macht. Das würde die Preise im Euroland weiter nach oben treiben.

Drittens waren aus historischer Sicht hohe Staatsschulden und Inflation immer eng miteinander verbunden. Die Staatsverschuldung ist in vielen Industrieländern historisch hoch. In den USA liegt sie bei über 35 Billionen Dollar. Immense Ausgabenverpflichtungen für die soziale Sicherung und ambitionierte grüne Transformationspläne scheinen den Regierungen in Europa wenig Spielraum für Ausgabenkürzungen zu lassen.

Die EZB hat sich mit dem sogenannten Transmissionsschutzinstrument die Möglichkeit geschaffen, unbegrenzt Anleihen von hoch verschuldeten Euroländern zu kaufen. Ebenso hat sie angekündigt, strukturell Anleihen in ihrer Bilanz halten zu wollen. Dadurch kann sie mögliche Staatsschuldenkrisen in Italien oder Frankreich verhindern, aber die Verschuldung wird hoch bleiben. In den USA schienen weder Donald Trump noch Kamala Harris viele Gedanken an das Sparen zu verschwenden.

Darüber hinaus gibt es insbesondere in Europa viele Anzeichen für weitere Lasten. Die alternden Gesellschaften bringen die gesetzlichen Rentensysteme in Schieflage. Die Kostenprobleme der anhaltenden Migration sind nicht gelöst. Die strauchelnde Industrie schreit nach immensen Subventionen. In Deutschland schwelt eine Immobilienkrise, die sich ausweiten könnte, wenn die Zinsen weiter hoch bleiben. Und die EU-Klimapolitik wirft der Wirtschaft immer mehr Sand ins Getriebe.

All das könnte die hastigen Zinssenkungen von Fed und EZB erklären. Auch wenn die offiziell gemessenen Inflationsraten Zinssenkungen zu erlauben scheinen, dürfte das Inflationsproblem alles andere als gelöst sein. Abseits der offiziellen Konsumentenpreisindizes zeigen die Preise von Aktien, Immobilien und Gold bereits wieder nach oben.

Während die Zentralbanken ab 2022 nur mit deutlicher Verzögerung auf die stark gestiegene Konsumentenpreisinflation reagiert haben, haben sie nun die Geldpolitik gelockert, bevor die Inflationsziele erreicht waren bzw. sind. Das könnte darauf hindeuten, dass die schuldensüchtigen USA und das reformunwillige Europa die Inflation immer noch als die einzig politisch praktikable Lösung für unkontrollierte Ausgabenversprechen sehen.

Ob die Inflation richtig gemessen wird oder sich wieder in einem unkontrollierten Anstieg der Vermögenspreise widerspiegelt, scheint dabei nebensächlich. Die hohe gefühlte Inflation signalisiert, dass das verlorene Vertrauen in die Währungen und in die politischen Entscheidungsträger noch nicht zurückgewonnen ist. Der Vertrauensverlust in die Währungen dürfte sich vielmehr weiter fortsetzen.

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