09.05.2023 - Kommentare
Das Chartered Financial Analyst (CFA) Institute hat kürzlich ein Handbuch zu künstlicher Intelligenz veröffentlicht. In elf Kapiteln werden auf 137 Seiten aktuelle Anwendungen künstlicher Intelligenz in der Finanzbranche diskutiert. Experten verschiedenster Unternehmen kommen zu Wort. Entstanden ist ein sehr lesenswerter und anwendungsorientierter Leitfaden.
Bücher zum Thema Künstliche Intelligenz (KI) gibt es viele. Sollen sie speziell auf den Finanzmarkt Bezug nehmen, werden es schon weniger. Soll der Fokus auf praktischen Anwendungen und deren Umsetzung und nicht auf den technischen Details von Algorithmen liegen, gibt es kaum Material.
Erfreulicherweise ist es der Research Foundation des CFA Institute um Herausgeber Larry Cao mit ihrem „Handbook of AI“ gelungen, einen Beitrag zur Schließung dieser Lücke zu leisten.1 Experten aus renommierten Häusern wie der Investmentbank Goldman Sachs, dem holländischen Pensionsverwalter APG und dem chinesischen Finanzdienstleister Ping An liefern unter der gemeinsamen Vision künstliche und menschliche Intelligenz zu vereinigen, Einsichten und Handlungsanweisungen zur Anwendung künstlicher Intelligenz im Finanzwesen.
So verschieden die Hintergründe der Autoren sind, so breit ist die behandelte Themenpalette. Neben einer ausgesprochen empfehlenswerten Einführung in maschinelles Lernen und Data Science geht das Handbuch auf Natural Language Processing, also dem Erkennen und Verarbeiten menschlicher Sprache ein, kommentiert den Stand der Praxis im KI-unterstützten Trading, gibt einen Überblick über den Stand der Technik bei Chatbots und zeigt abschließend mit einem hochinteressanten Beispiel zum Thema „Symbolic AI“ vielleicht das nächste große Entwicklungsfeld künstlicher Intelligenz auf.
Das alles gelingt sehr kompakt auf nicht einmal 150 Seiten, die vollgepackt sind mit Beispielen aus der Praxis und Umsetzungsvorschlägen. Dies macht den Text zu einer gut lesbaren, praktischen Einführung in die Thematik, die aber auch für Leser mit Vorkenntnissen noch Neuartiges bereithält. Unterm Strich ist das Handbuch damit weit mehr als „just another book on AI“.
In der Einführung werden zunächst die besonderen Erfordernisse von Finanzmarktdaten erläutert. Insbesondere die hohe Komplexität des Finanzmarktes und die geringe Signal-to-noise ratio stellen besondere Anforderungen an Algorithmen: Dem Nutzer eines Streaming-Dienstes passend zu seiner Historie neue Serien vorzuschlagen ist ganz offensichtlich einfacher, als aus verschiedenen Wirtschaftsprognosen, Stimmungen von Marktteilnehmern und Unternehmensdaten automatisch passende Prognosen für Aktienkurse zu erstellen. Um in der Datenflut nicht unterzugehen, ist es daher unerlässlich, dass der Mensch die Entwicklung der Algorithmen mit ökonomischem Wissen und seiner Intuition begleitet.
Der Computer zeigt seine Stärken beim Umgang mit Nichtlinearität und der Interaktion verschiedener Merkmale eines Datensatzes. Ein Beispiel verdeutlicht dies: Ein Datensatz enthält die Aktienrendite, den Gewinne und eine binäre Information über die Qualität der Buchhaltung verschiedener Unternehmen. Es zeigt sich, dass die Renditen weitestgehend von den Gewinnen unabhängig sind, aber aufgrund der Buchhaltungsinformation in zwei Teilmengen, eine mit positiven und eine mit negativen Renditen, aufgeteilt werden können.2
Das zweite Kapitel gibt einen Einblick in die Welt der Daten und der alternativen Daten. Letztere entstehen durch, die im Zuge der Digitalisierung entstandenen Möglichkeiten Daten zum Beispiel direkt aus Sensoren zu erfassen.3 Die Trennung wird richtigerweise als künstlich bezeichnet, denn im Mittelpunkt sollte stets das zu lösende Investmentproblem stehen und Daten auf ihre Relevanz bezüglich der Erhellung des Sachverhaltes beurteilt werden: Enthält das Problem z.B. eine regionale Komponente, können raumbezogene Satellitenbilder hilfreich sein. Bei Entscheidungen mit Online-Bezug, können zusätzliche Informationen wie die Besuche einer Website mehrwertig sein. Letztendlich gilt es stets das eigentliche Problem in den Mittelpunkt zu stellen, um sich im Dschungel der Datensätze zu Recht zu finden.
Mit dieser Richtschnur im Kopf können gemischte Teams aus Investmentanalysten und Data Scientists gemeinsam beurteilen, welche Datenbanken Mehrwert generieren und ob sie die erforderliche Qualität aufweisen. In Kapitel drei wird diese Sicht manifestiert:
„Data science endeavors should start with key investment questions rather than what data and metrics data scientists have already built and how to figure out use cases out of them.”4
Ein Anwendungsbeispiel gibt Einblicke in die Analyse der Kundenstruktur einer globalen Luxusgütermarke in China und den daraus abgeleiteten Ergebnisschätzungen. Ein anderes zeigt, wie die Analyse von Online- und Offlinepreisen eines Bekleidungsherstellers mit Hilfe von Data Science aufgewertet wurde.
Kapitel elf liefert einen Ausblick auf ein mögliches nächstes großes Entwicklungsfeld der künstlichen Intelligenz – symbolische KI. Solche Systeme setzen Daten, basierend auf logischen Verknüpfungen, selbstständig in Bezug. Der Vorteil gegenüber generativen KI-Systemen wie Chat GPT liegt darin, dass keine Zusammenhänge aufgrund probabilistischer Methoden „erfunden“ werden. Das geschaffene Wissen leitet sich vollständig aus Daten und Logik ab. Dafür ist Aufsetzen und Training des Systems zeitaufwendig und benötigt Expertenwissen.
Schon heute ist jedoch beim holländischen Pensionsverwalter APG ein digitaler Portfoliomanager namens Samuel im Einsatz. Er vereinigt das Wissen seiner menschlichen Kollegen, die ihn auch trainieren und gibt ihnen dann Entscheidungsvorlagen auf Basis der kodifizierten Regeln zurück. So wird vermieden, dass der Mensch durch persönliche Verzerrungen Entscheidungen trifft, die zum bereits bestehenden, akzeptierten Wissen inkonsistent sind.5
Ein Beispiel: Angenommen das System weiß das Clichy ein Stadtteil von Paris ist und Paris in Frankreich liegt. Dazu weiß es wie man einen Immobilienpreisindex berechnet und den aktuellen Indexstand für Frankreich. Nun erhält es neue Informationen über die Preise der aktuellen Immobilienverkäufe in Clichy. Dies kann manuell geschehen oder das System holt sich diese selbstständig durch Websuche oder über eine automatische Schnittstelle. Jetzt folgert das System selbstständig, wie sich die Immobilienpreise in Clichy, Paris und Frankreich verändert haben und gibt Einschätzungen welche Implikationen dies auf andere ökonomische Parameter wie zum Beispiel die zu erwartende Mietrendite hat und ob Investitionen in Immobilien noch die geforderte Mindestprofitabilität aufweisen. Die Schlussfolgerungen basieren dabei vollständig auf den von den Experten vorgegebenen Regeln.
Der Mittelteil des Buches widmet sich zunächst detailliert den Themen Spracherkennung und Sprachverarbeitung. Unter Angabe einzelner Code-Ausschnitte werden „klassische“ KI-Anwendungen wie Sentiment-Analyse oder Textzusammenfassungen erörtert. Die Speerspitze auf diesem Gebiet bilden dabei offenbar quantitativ ausgerichtete Hedgefonds. Renaissance Technologies und TwoSigma Investments sind Spitzenreiter bei den automatischen Downloads der durch die amerikanischen Börsenaufsicht vorgegebenen 13F-Filings, die in maschinenlesbarer Form Aufschluss über die Portfolios institutioneller Anleger geben.6 Mit jeweils über einer halben Million heruntergeladenen Dokumenten zwischen 2004 und 2017 entnehmen sie dem Netz beispielsweise mehr als dreimal so viele dieser Dokumente wie der etablierte und ebenfalls auf dem Gebiet aktive Asset-Manager JPMorgan Chase.7 Abgerundet wird dieser Teil durch eine Fallstudie zum Thema automatische Textanalyse im Hinblick auf Investieren unter ESG Gesichtspunkten.
Im dritten Teil wird in zwei Kapiteln der aktuelle Stand der Forschung zu Trading-Algorithmen erläutert. Insbesondere wird dargestellt, wie man Trades mit hohen Volumina abwickeln kann, ohne gleichzeitig den Kurs durch das eigene Handeln über Gebühr zu beeinflussen. Oberthema ist die Entwicklung automatischer Trading-Strategien. Im Kern steht die Frage, welche Parameter für einen Trade entscheidend sind und wie man diese automatisch identifiziert. Hier stellen sich der Handelshorizont und -volumen sowie die historische Volatilität als wichtigste Parameter heraus. Insgesamt decken sich die gemachten Aussagen und vorgestellten Beispiele weitestgehend mit dem von uns an anderer Stelle erstelltem Überblick.8
Das Thema intelligenter Kundenservice in der Finanzwirtschaft wird von dem chinesischen Finanzdienstleister Ping An beleuchtet. Im Spannungsfeld zunehmend fragmentierter Kundenwünsche und stark steigender Arbeitskosten soll die Nutzung von KI, Effizienzgewinne schaffen. Algorithmen sollen insbesondere repetitive Aufgaben übernehmen, wodurch Lohnkosten eingespart werden. Chatbots werden als prominentes und aktuelles Hilfsmittel näher vorgestellt: Diese beantworten Standardfragen und können Teile von Kundengesprächen von menschlichen Beratern übernehmen. Aber auch im proaktiven Kundenmanagement helfen Algorithmen, z.B. durch Vorselektion der Bestandskunden hinsichtlich der Eignung für ein neues Investmentprodukt. Das Bemerkenswerteste an diesem Kapitel sind jedoch nicht die einzelnen Beispiele, sondern wie der digitale Kanal durchgehend als neuer Standard der Kundeninteraktion als Tatsache und nicht als Option unter vielen dargestellt wird:
As digital channels become the “basic offering,” financial institutions must innovate to create unique customer service experiences.9
Einzig das Kapitel über Prozessortechnik bringt dem Laien kaum Mehrwert. Die Kernthese, dass mehr Daten und komplexere Algorithmen auch mehr Rechenleistung erfordern ist offensichtlich. Worin nun aber die technischen Fortschritte der neuen Chips zur Bearbeitung von KI-Methoden liegen, bleibt leider wage. So ist die Auflistung der Anwendungsbeispiele größtenteils lediglich eine Wiederholung bereits vorher präsentierter Inhalte, ohne dass die technischen Hintergründe erhellt werden. Hier hätte etwas mehr technische Tiefe gutgetan.
Wer einen praktischen Einstieg ins Thema Künstliche Intelligenz sucht, der findet auf knapp 135 Seiten einen umfassenden Überblick zum aktuellen Stand der Technik inklusive Ausblicken auf die Zukunft. Besonders empfehlenswert ist der einführende Abschnitt, also die Kapitel eins bis drei, sowie das letzte Kapitel zu symbolischer KI. Die einzelnen Kapitel sind von verschiedenen Praktikern aus der Finanzwirtschaft geschrieben und decken ein breites Spektrum ab, ohne unkonkret zu werden. Die Fokussierung auf den Finanzmarkt und die kompakte Darstellung sorgen dafür, dass das Handbook der CFA allgemeine Einführungen zu künstlicher Intelligenz überflügelt und dadurch zu einem „Must-Read“ für alle an der Thematik Interessierten wird.
2 Siehe CFA Handbook aus Fußnote 1, Seite 3, Exhibit 1.
4 Siehe CFA Handbook aus Fußnote 1, Seite 29.
5 Siehe hierzu auch D. Kahnemann, O. Sibony & C.R. Sunstein, Noise: A Flaw in Human Judgement, Harper Collins, 2021.
6 Zu weiteren Aktivitäten dieser beiden Unternehmen im Bereich KI siehe auch: Maschinelles Lernen an Finanzmärkten: gekommen, um zu bleiben - Flossbach von Storch Research Institute
7 Siehe CFA Handbook aus Fußnote 1, Seite 60, Exhibit 2.
8 Siehe Fußnote 6.
9 Siehe CFA Handbook aus Fußnote 1, Seite 109.
06.04.2023 - Gesellschaft & Finanzen
von Sven Ebert
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