14.05.2024 - Kommentare

Die Zinsplaner

von Thomas Mayer


Die empirische Evidenz spricht dafür, dass die Zentralbanken den entscheidenden Einfluss auf die kurz- und langfristigen Zinsen ausüben. Doch die Zentralbanken treffen ihre Entscheidungen in weitgehender Unwissenheit über künftige wirtschaftliche Entwicklungen und dafür angemessene Zinsen. Da der Zins der wichtigste Preis in einer Marktwirtschaft ist, erzeugen sie gravierende Störungen des Wirtschaftsablaufs, die sich in Boom-Bust-Zyklen auf den Kredit- und Anleihemärkten und im Konjunkturverlauf äußern.

Im Jahr 1920, drei Jahre nach der russischen Oktoberrevolution, wies der Ökonom Ludwig von Mises darauf hin, dass in der sozialistischen Zentralplanung eine für die effiziente Verwendung knapper Ressourcen notwendige Wirtschaftsrechnung unmöglich ist (Mises, 1920). Sein Schüler Friedrich von Hayek zeigte, wie die wirtschaftlichen Handlungen Einzelner durch die Preisbildung im Markt effizient koordiniert werden können (Hayek, 1945). Der ökonomische Kollaps des „real existierenden Sozialismus“ Ende der 1980er-Jahre kam also mit Ansage. Umso erstaunlicher ist es, dass zeitgleich mit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre die Zentralbanken der westlichen Welt in die makroökonomische Zentralplanung der Wirtschaft einstiegen.

Sie nahmen sich vor, den Konjunkturverlauf der Wirtschaft so zu steuern, dass das Preisniveau mittelfristig mit einer Rate von zwei Prozent wachsen würde. Ihr wichtigstes Instrument zur Wirtschaftslenkung war der Zins auf ihre Kredite an Geschäftsbanken. Dadurch haben sie den für eine Marktwirtschaft wichtigsten Preis, den „Preis der Zeit“ (Chancellor, 2022), der Zentralplanung unterworfen und wiederholten den Misserfolg auf makroökonomischer Ebene, den die sozialistischen Zentralplaner auf gesamtwirtschaftlicher Ebene geerntet hatten.

Die Unmöglichkeit des „Inflation Targeting“

Die geldpolitische Strategie, ein Inflationsziel zu verfolgen, entstand 1990 in Neuseeland. Die Bank von Kanada folgte Anfang 1991 und der Bank von England wurde von der Regierung im Oktober 1992 zum ersten Mal ein Inflationsziel vorgegeben (https://en.wikipedia.org/wiki/Inflation_targeting). Nach und nach folgten andere Zentralbanken, indem sie sich explizit zu der Strategie bekannten oder dieser implizit folgten. Heute ist „Inflation Targeting“ unter den von Regierungen unabhängigen Zentralbanken unangefochten die dominante Strategie der Geldpolitik.

Die Strategie besteht darin, mit den Mitteln der Geldpolitik den Konjunkturverlauf so zu glätten, dass die Inflation der Konsumentenpreise mittelfristig zwei Prozent beträgt. Dazu soll die Zentralbank die Inflationserwartungen der Wirtschaftsakteure an ihrem Ziel verankern und in normalen Zeiten die Konjunktur über Zinsanpassungen steuern. Im Jahr 1993 fand der US-amerikanische Ökonom John Taylor eine dafür geeignete Zinsformel (Taylor, 1993). Danach ergibt sich der Politikzins aus der Summe eines inflationsneutralen, „natürlichen“ Realzinses und der Inflationsrate, zuzüglich einer Konjunkturkomponente. Diese Komponente zur Anpassung an den Konjunkturzyklus besteht aus dem Mittelwert der Differenz zwischen tatsächlicher und gewünschter Inflation und zwischen tatsächlichem und potenziellem realem Bruttoinlandsprodukt (dem „Output Gap“).

Steigt die Inflation über den Zielwert hinaus, verlangt die Regel, dass der Politikzins nicht nur um den Anstieg der Inflationsrate, sondern darüber hinaus auch um die Hälfte der Abweichung der Inflationsrate von ihrem Zielwert angehoben wird. Der „reale“ Politikzins (Nominalzins minus Inflation) soll steigen, damit sich die Wirtschaft abkühlt und der Inflationsdruck sinkt. Fällt die Wirtschaft in die Rezession, fällt das tatsächliche unter das potenzielle BIP und damit der „Output Gap“, und der reale Politikzins soll fallen.

Wie Grafik 1 am Beispiel der US Federal Reserve zeigt, beschreibt eine einfache (dem Original nachempfundene) Taylor-Regel mit einem „natürlichen“ Realzins und einem Inflationsziel von jeweils zwei Prozent die Zinspolitik der Zentralbank über die Zeit recht gut. Allerdings fällt auf, dass der tatsächliche Zins dem Taylor-Zins meist hinterherhinkt. Der Grund dafür ist, dass sich die Zentralbanken sehr wohl bewusst sind, dass die Geldpolitik mit Verzögerungen wirkt. Folglich ergibt es keinen Sinn, die Politik an der laufenden Inflationsrate zu orientieren. Sie muss auf die zukünftige Inflation hin ausgerichtet werden. Als Grundlage für die Strategie des „Inflation Targeting“ müssen daher Inflationsprognosen erstellt werden. Doch diese Prognosen erweisen sich regelmäßig als falsch. So ist es auch zu erklären, dass der effektive Federal Funds Zins seit dem Platzen der Technologieblase 2001/02 fast durchgehend unter dem Taylor-Zins lag. Die Fed war unter dem Eindruck der Großen Depression der 1930er-Jahre permanent von Deflationsfurcht beseelt.

Grafik 2 zeigt anhand der tatsächlichen und der von der Europäischen Zentralbank prognostizierten Inflation seit 2018 die Unmöglichkeit einer hinreichend verlässlichen Inflationsprognose. Wie die US Federal Reserve hat sie die künftige Inflation systematisch unterschätzt. Die jüngsten Prognosen zeigen wieder einen Rückgang der Inflation auf zwei Prozent in der Zukunft. Und auch hier dürfte der Wunsch statt einer verlässlichen Prognose Vater des Gedankens sein. Grund dafür und für die chronischen Fehlprognosen der Vergangenheit ist, dass es keine allgemein gültige Theorie über die Ursachen der Inflation gibt (Mayer, 2024).

Doch nicht nur die Prognose der Inflation, sondern auch die Bestimmung des Output Gaps am aktuellen Rand und des „natürlichen“ Realzinses bereiten große Schwierigkeiten. Zur Berechnung des Output Gap ist eine Schätzung des potenziellen realen Bruttoinlandsprodukts nötig. Für die Vergangenheit kann diese Schätzung mit der Entwicklung des tatsächlichen BIP abgeglichen werden. Am aktuellen Rand ist dies jedoch nicht möglich, so dass Werte aus der Vergangenheit meist einfach in die Zukunft fortgeschrieben werden.

Noch komplizierter ist die Bestimmung des natürlichen Realzinses. Dieser Zins soll sich einstellen, wenn die Wirtschaft „im Gleichgewicht“ bei stabiler Inflation wächst. Doch ist ein „Wachstum im Gleichgewicht“ reine Fiktion und in der Wirklichkeit nicht anzutreffen. Insofern entspricht der natürliche Realzins einem fiktiven Zins einer fiktiven Wirtschaft. Der Wert dieses doppelt fiktiven Zinses ist aus der tatsächlichen Wirtschaftsentwicklung nur mit sehr viel Fantasie des Ökonomen herzuleiten.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die geldpolitische Strategie des „Inflation Targeting“ drei gravierende Schwachstellen aufweist: (1) die Unfähigkeit, die Inflation über den Wirkungszeitraum der Geldpolitik hinlänglich genau vorherzusagen; (2) die Unsicherheit über den Output Gap am aktuellen Rand; und (3) die Unfähigkeit, den „natürlichen“ Realzins hinlänglich genau zu schätzen. Diese Schwachstellen allein lassen die Strategie als ungeeignet erscheinen. Die auf sie zurückzuführenden Fehler der Geldpolitik über die letzten drei Jahrzehnte sollten sie endgültig disqualifizieren.

Tatsächlich rücken die Zentralbanken still von ihr ab, indem sie den Stellenwert ihrer Inflationsprognosen für die geldpolitischen Entscheidungen verringern. Doch können sie das nicht offen aussprechen, da sie dann zugeben müssten, dass sie ihre Politik an den letzten Daten und dem Bauchgefühl der Mitglieder der Zentralbankräte ausrichten. Ohne die Legitimierung durch Expertenwissen könnte die Geldpolitik aber nicht länger dem politischen Bereich entzogen bleiben. Denn wenn die Experten nicht mehr als jeder andere wissen, haben sie auch keine besondere Befugnis, die Geldpolitik zu gestalten.

Kollateralschäden einer sich Wissen anmaßenden Geldpolitik

Die Zinsgestaltung durch eine unwissende Planungsbehörde wäre verschmerzbar, wenn der zentral gelenkte Zins für die Wirtschaft von geringer Bedeutung wäre. Dem ist aber nicht so. Die Zentralbanken legen die Zinsen auf ihre Kredite an die Geschäftsbanken und deren Einlagen bei der Zentralbank fest. Entgegen einem weit verbreiteten Missverständnis verleihen die Geschäftsbanken das geliehene Zentralbankgeld nicht weiter, weder direkt noch indirekt, indem sie es als Deckungsstock für eigenes Geld nutzen und dieses durch „fraktionelle Reservehaltung“ vermehren. Vielmehr nutzen die Geschäftsbanken Zentralbankgeld als Zahlungsmittel für Geschäfte untereinander und mit der Zentralbank zum Bilanzausgleich.

Zentralbankgeld kommt zum Beispiel ins Spiel, wenn eine Geschäftsbank einen Abfluss von durch Kreditvergabe geschaffenem Giralgeld nicht durch einen Interbankkredit finanzieren kann oder will. In diesem Fall muss sie akzeptable Wertpapiere (final oder mit Rückkaufvereinbarung) an die Zentralbank gegen Zentralbankgeld verkaufen. Das Zentralbankgeld überträgt sie dann an die das Giralgeld empfangende Geschäftsbank, welche die Übernahme einer neuen Verpflichtung in Form des überwiesenen Giralgelds mit dem Erhalt einer neuen Forderung in Form des Zentralbankgelds decken kann. Da Banken immer damit rechnen müssen, zur Abwicklung von Giralgeld-Überweisungen Zentralbankgeld zu benötigen, bildet für sie der (Ausleihe- oder Einlage-) Zins auf dieses Geld die Grundlage für die Gestaltung ihrer Kreditzinsen. Auf den Zins für Zentralbankkredite (oder Einlagen) schlagen sie Prämien für die Fristentransformation und das Kreditrisiko auf. Dies gilt sowohl für direkte Bankkredite an individuelle Kreditnehmer als auch für auf Anleihemärkten handelbare Wertpapierkredite (Mayer, 2019).

Unter allen Beteiligten herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass der Einfluss der Zentralbankzinsen nur auf die Zinsen für sehr kurzfristige Kredite entscheidend ist. Zinsen und Renditen auf längerfristige Kredite und Anleihen sollen sich an den Kredit- und Anleihemärkten bilden, so die überwiegende Meinung. Zumindest, solange die Zentralbanken nicht selbst als gewichtige Käufer oder Verkäufer von Anleihen am Markt auftreten. Viele Zentralbanker behaupten, dass sich die Marktteilnehmer selbst ein Bild über den Zentralbankzins machen, der nötig ist, um die Inflation am Ziel der Zentralbanken zu verankern.

Wenn – wie es die Theorie der rationalen Erwartungen behauptet – sowohl Marktteilnehmer als auch Zentralbanker die Funktionsweise der Wirtschaft korrekt verstehen, sie also ihre Einschätzungen auf Grundlage des gleichen theoretischen Wirtschaftsmodells bilden, und alle Beteiligten alle verfügbaren Informationen haben und in ihre Entscheidungen einbeziehen, dann erwarten tatsächlich alle auch die gleichen Zentralbankzinsen. Des Weiteren bilden sich durch Arbitrage am Markt einheitliche Prämien für Fristentransformation und Kreditrisiken. Folglich bemühen sich die Zentralbanken um die Bereitstellung von Informationen und die Schaffung eines einheitlichen Verständnisses über das „richtige ökonomische Modell“.

Doch die Annahmen der Theorie rationaler Erwartungen scheitern an der Wirklichkeit. Weder haben alle Marktteilnehmer alle verfügbaren Informationen, noch kennen sie das „richtige ökonomische Modell“. Zum einen ist das Sammeln von Informationen durch Kosten und den Kenntnisstand der Akteure begrenzt. Folglich handeln sie grundsätzlich ohne Kenntnis aller verfügbaren Informationen. Zum anderen gibt es kein alles erklärendes „richtiges Modell“ der Wirtschaft. Die Funktionsweise der Wirtschaft ist viel komplexer als die natürlicher Systeme und kann nicht vollständig verstanden und erklärt werden (Hayek, 1974). Folglich suchen die Marktteilnehmer nach Orientierung – und die Zentralbanken bieten ihnen diese.

Grafik 3 zeigt den effektiven Zins auf Zentralbankgeld und die Rendite auf zehnjährige Staatsanleihen in den USA ab 1955. Man könnte darauf erkennen, dass die „Fed Funds Rate“ die Anleiherendite anführt, aber die Beweislage ist nicht eindeutig. Die Behauptung, dass Zentralbank und Marktteilnehmer simultan auf die wirtschaftliche Entwicklung reagieren, kann damit nicht widerlegt werden.

Ein genaueres Bild zeichnet Hillenbrand (2023). Der Autor zerlegt die täglichen Veränderungen der Rendite auf zehnjährige US-Staatsanleihen im Zeitraum von Juni 1989 bis Juni 2021 in Drei-Tages Fenster um die Zinsentscheidungen des Federal Open Market Committee (FOMC) der US-Zentralbank, und alle anderen Tage. Er findet, dass der gesamte Rückgang der Anleiherendite über diesen Zeitraum allein durch Bewegungen in diesen Drei-Tages Fenstern erklärt werden kann. Betrachtet man alle täglichen Veränderungen außerhalb dieser Fenster erhält man eine stationäre Zeitreihe (mit Schwankungen um einen stabilen Mittelwert). Die Bedeutung der „Fed“ für die Renditen am Anleihenmarkt war schon in den 1980er-Jahren hoch, in denen das FOMC noch keine ausführlichen öffentlichen Erklärungen zu den Zinsentscheidungen abgab.

Dagegen spielten ökonomische oder finanzielle Umstände keine Rolle (Hillenbrand, 2023, p.17). Auch findet er, dass die Federal Reserve nicht nur den nominalen, sondern auch den realen Zins am Anleihemarkt steuert. Der Rückgang der nominalen Renditen seit 1999 war ausschließlich auf den Rückgang der realen Renditen („TIPS-yields“) zurückzuführen. Auch diese wurden im Wesentlichen von der Fed getrieben. Eine Regression der Veränderungen des Realzinses 10-jähriger Anleihen auf Veränderungen der in den sogenannten „dot plots“ gegebenen Prognosen der FOMC-Mitglieder für den Realzins in den Drei-Tages Fenstern ergibt, dass eine Veränderung der Fed-Prognose um 100 Basispunkte den Marktzins um 70 Basispunkte senkt.

Hillenbrand (2023, S.3) erklärt sein Ergebnis damit, dass sich die Marktteilnehmer an den Handlungen und Erklärungen der Zentralbank orientieren und nennt diesen Prozess „Long-run Fed Guidance“:

„It seems quite natural that the market learns from the Fed about the long run path of inflation, since the Fed supposedly controls inflation over the longer run. Thus, if the Fed lowers its inflation target and this ultimately feeds into lower long-run inflation, then this information is valuable for investors.“

Luzzetti et al. (2024) haben die Analyse Hillenbrands für die jüngere Vergangenheit, in der Zinserhöhungen die wesentliche Rolle spielten, erweitert. Sie finden, dass sich Renditerückgange auch während dieser Phase in der Zeit um FOMC-Treffen kumulierten und fassen ihr Ergebnis so zusammen (S.4):

“Long-term yields, both nominal and real, consistently decline around FOMC meetings. The drop in yields around these dates accounts for roughly the entire decline over the past several decades. Put simply, long-term yields seem to respond to FOMC events in a permanent way.”

Allerdings favorisieren sie eine andere Erklärung für dieses Phänomen als Hillenbrand. Sie sehen in Überraschungen des FOMC in Form der Veränderungen der Fed-Zinsprognosen für die nächsten sechs Monate eine treibende Kraft für Renditeänderungen am Anleihemarkt. Die Überraschungen in der näheren Zukunft strahlen dann auf längere Laufzeiten aus, wo die Anleger höhere Renditen suchen („reach for yield“). Mit anderen Worten, Lucetti et al. sehen in Veränderungen der Fristenprämie („term premium“), statt in Veränderungen der erwarteten Politikzinsen den wesentlichen Treiber für die Renditen von länger laufenden Anleihen.

Wie dem auch sei, in beiden Erklärungen für das beobachtete Phänomen der Renditeänderungen um Treffen des FOMC spielt die Fed die entscheidende Rolle für die Entwicklung der langfristigen Zinsen.

Persönliche Beobachtungen

Ich begann meine Tätigkeit als „Central Bank Watcher“ im Investmentbanking im Oktober 1990 und beendete sie (formell) Ende 2009. In den zwei Jahrzehnten meiner Arbeit hatte ich überwiegend mit spekulativen Investoren an den Anleihemärkten zu tun, die aus dem Handel und nicht der langfristigen Anlage Gewinne erwirtschaften wollten. Immer wieder habe ich beobachten können, wie diese Investorengruppe die Preisbildung an den Anleihemärkten anführte.

Mein „Job“ war, diese Marktteilnehmer mit Informationen über anstehende Entscheidungen der Zentralbanken zu versorgen. Als Ökonom bestand meine Arbeitsweise darin, die „Reaktionsfunktion“ der Zentralbanken auf wirtschaftliche, finanzielle und politische Ereignisse zu bestimmen und daraus anstehen Entscheidungen abzuleiten. Niemals hat sich einer meiner „Kunden“ für das „richtige ökonomische Modell“ interessiert, und niemals ging es darum, „alle verfügbaren Informationen“ zu sammeln. Es zählte nur, welche Vorstellung von der Funktionsweise der Wirtschaft die Zentralbanker hatten und welche Informationen sie für ihre Entscheidungen heranzogen.

Ich fand meine Erfolge bei der Prognose der Zentralbankentscheidungen recht bescheiden. Dementsprechend war wohl meine Entlohnung geringer als die der (vor allem von Hedgefonds) besoldeten Kundschafter, deren Arbeitsweise es war, die Nähe der Zentralbanker zu suchen und sie „auszuhorchen“. Für diese Tätigkeit eigneten sich besonders frühere Zentralbanker, höhere Staatsbeamte und Politiker, die leichteren Zugang zu amtierenden Zentralbankern hatten. Oft war ich über die meinem Ansatz überlegene Arbeitsweise der Kundschafter verblüfft.

Meine Arbeitserfahrung stand fortwährend im Widerspruch zu den Behauptungen der Zentralbanker, die Anleihemärkte würden von wirtschaftlichen und finanziellen Entwicklungen außerhalb ihres Entscheidungsbereichs getrieben. Dagegen steht sie im Einklang mit den Ergebnissen von Hillenbrand (2023) und Luzzetti et al. (2024).

Fazit

Die empirische Evidenz spricht dafür, dass die Zentralbanken den entscheidenden Einfluss über die kurz- und langfristigen Zinsen ausüben. Doch die Zentralbanken treffen ihre Entscheidungen in weitgehender Unwissenheit über künftige wirtschaftliche Entwicklungen und dafür angemessene Zinsen. Da der Zins der wichtigste Preis in einer Marktwirtschaft ist, erzeugen sie mit ihren Eingriffen gravierende Störungen des Wirtschaftsablaufs, die sich in Boom-Bust-Zyklen auf den Kredit- und Anleihemärkten und im Konjunkturverlauf äußern.

Schon auf den Aktienmarktcrash von 1987 reagierte die US Federal Reserve aus Furcht vor Deflation mit Zinssenkungen – und legte damit den Grundstein für die Sparkassenkrise Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre. Zehn Jahre später reagierte die Fed auf die sogenannte Asienkrise Ende der 1990er-Jahre wieder mit Zinssenkungen und schürte einen Boom an den Aktienmärkten, der mit dem Platzen der „Technologieblase“ 2001/02 in den Bust überging. Aus Furcht vor einer davon ausgelösten Deflation senkte die Fed die Zinsen auf historische Tiefs und befeuerte einen Boom auf den Immobilienmärkten, der zur „Großen Finanzkrise“ von 2007/08 führte. Wieder aus Furcht vor Deflation senkte die Fed und andere Zentralbanken die Leitzinsen nun auf noch tiefere Tiefs und drückten die Anleiherenditen durch direkte Käufe am Markt. Das Ergebnis war zunächst ein langanhaltendes, blutleeres Wirtschaftswachstum, gefolgt von einer Explosion der Inflation, als die Regierungen auf die Coronakrise 2020/21 mit monetär finanziertem „Deficit spending“ reagierten.

Nötig wäre, dass sich die Zentralbanken aus dem Geschehen zurückziehen. Das wird nicht passieren. Folglich werden Marktteilnehmer auch weiterhin Ressourcen dafür aufwenden, die Entscheidungen der Zentralbanker zu erraten, um sich für die von ihnen erzeugten Boom-Bust-Zyklen positionieren zu können.


Referenzen

Chancellor, Edward (2022): The Price of Time. Allen Lane.

Hayek, Friedrich August von (1945): The Use of Knowledge in Society. The American Economic Review Band 35, Nr. 4, S. 519–530.

Hayek, Friedrich August von (1974): Prize Lecture (https://www.nobelprize.org/prizes/economic-sciences/1974/hayek/lecture/).

Hillenbrand, Sebastian (2023): The Fed and the Secular Decline in Interest Rates. Harvard Business School, March.

Luzzetti, Matthew, Matthew Raskin, and Amy Young (2024): The long and the short of it: How the Fed drives long-term yields. Deutsche Bank Research, US Economic Perspectives, 29 April.

Mayer, Thomas (2019): Austrian Economics, Money and Finance. Routledge.

Mayer, Thomas (2024): A Latticework of Inflation Models. Flossbach von Storch Research Institute (10. März) und The Economists‘ Voice (in Vorbereitung).

Mises, Ludwig von (1920): Die Wirtschaftsrechnung im sozialistischen Gemeinwesen. Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (April), S. 8-22.

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