21.12.2022 - Studien
Ende September erlitten 30-jährige britische Staatsanleihen innerhalb weniger Tage Kursverluste von mehr als 20 Prozent. Der unerwartete Kursrutsch dieser vermeintlich sicheren Anlagen wirft die Frage auf, wo weitere Untiefen im europäischen und internationalen Finanzsystem lauern könnten.
Dies ist der Versuch eine Landkarte der Finanzrisiken zu erstellen. Die Karte kann aus zwei Gründen nur unvollständig sein: (1) Weil wir identifizierbare Risiken übersehen haben können, und (2) Weil es eine unbekannte Menge ex-ante nicht identifizierbarer Risiken gibt (die „unknown Unknowns“). Die prinzipielle Ungewissheit entbindet jedoch nicht von der Pflicht, identifizierbare Risiken zu benennen und zu beurteilen.
Solvenz, Liquidität und Vernetzung – die Dimensionen der Finanzrisiken
Wir sortieren die von uns identifizierten Risiken anhand von drei Kategorien: Erstens Solvenz und die Frage wie sich mögliche Entwicklungen auf den (bilanziellen) Wert von Vermögensgegenständen auswirken. Zweitens Liquidität und die Fähigkeit oder Notwendigkeit kurzfristig Zahlungsverpflichtungen nachzukommen. Drittens gilt es den Grad der Vernetzung von Schuldnern und Gläubigern zu betrachten. Auf wenige Marktteilnehmer begrenzte Verluste, wie beim aktuellen Niedergang der Krypto-Börsen sind weniger gefährlich als ein möglicher Ausfall der Altersvorsorge sämtlicher Rentner einer international vernetzten Volkswirtschaft, wie er in der bereits erwähnten Krise rund um britische Staatsanleihen zu Tage getreten ist. In den einzelnen Kategorien unterscheiden wir zwischen Niedrig, Mittel, Hoch und Ungewiss. Letztere Kategorie wählen wir immer dann, wenn uns historische oder quantitative Einordnungen zu spekulativ erscheinen.
Auf diese Weise sämtliche noch verborgenen Hochrisikogebiete aufzudecken ist unrealistisch. Küstenlinien eines unbekannten Territoriums lassen sich jedoch skizzieren. Im Folgenden begründen wir unsere Einschätzungen aus der obigen Karte einzeln.
Wir starten in Italien und arbeiten uns dann über Japan zu den Repo-Märkten und verwandten Themen vor. Danach schauen wir auf Schwellenländer sowie Immobilien und machen einen Abstecher zu Unternehmensanleihen und insbesondere Krediten stark verschuldeter Unternehmen, sogenannter „leveraged loans“. Es folgen Überlegungen zu (niederländischen) Pensionsfonds und (deutschen) Pensionskassen sowie (klassischem) Private Equity. Abschließend betrachten wir den (wenig regulierten) Schattenbanken Sektor im Allgemeinen und werfen insbesondere einen Blick auf amerikanische Immobilienfonds (REITs).
Der Süden ist deutlich höher verschuldet als der Norden – aber auch Mitteleuropa hat aufgeholt
Ein (auch geografisch) naheliegendes Risiko sind Staatsschulden in Europa, wobei an vorderster Front Italien zu nennen wäre. Die Verschuldung der Staaten Europas weist bezüglich der jeweiligen Höhe ein erhebliches Gefälle auf. Im Süden sind die Schulden in Relation zum BIP um ein Vielfaches höher als im Norden. In absoluten Zahlen betrachtet, befindet sich Italien mit den deutlich größeren Volkswirtschaften Frankreichs und Deutschlands etwa in einer Liga (Grafik 1).
Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft der EU mit 150 Prozent Verschuldung, besitzt Außenstände von knapp 2,7 Billionen Euro. Als Mitglied der EWU verfügt Italien theoretisch nicht über eine eigene Zentralbank, die dem Staat bei Liquiditäts- oder Solvenzkrisen Geld schaffen kann. Praktisch hat die Europäische Zentralbank diese Rolle jedoch übernommen. Ob sie aber auch bei hoher Inflation für Italien Geld schaffen wird, ist ungeklärt. Vor diesem Hintergrund gibt auch Frankreich mit 113 Prozent Schuldenquote und Gesamtschulden von gut 3,2 Billionen Euro als zweitgrößte Volkswirtschaft Anlass zur Sorge. Norwegen und Schweden rangieren mit Quoten unter 50 Prozent am unteren Ende der Skala und haben eigene Zentralbanken. Deutschland bewegt sich (noch) im Mittelfeld. Wir sehen daher nach wie vor das größte Risiko bei italienischen Staatsanleihen und schauen in den nächsten Abschnitten dort detaillierter hin.
Das römische Risiko-Roulette
Die Geschichte „Staatspleite zieht Banken in die Pleite, weil diese zu viele Staatsanleihen halten“ begann während der Finanzkrise und ist noch nicht zu Ende erzählt. Der „Sovereign-Bank-Doom-Loop“ befindet sich gerade in seiner x-ten Kurve und allen Bemühungen seitens der Regulierer und der EZB zum Trotz gibt es keine Gewissheit, ob die Bahn nicht aus der Acht herausfliegt.
Exemplarisch steht Italien für ein Problem, das kaum lösbar ist. Denn die Financiers der Schulden sind neben der Europäischen Zentralbank (EZB) auch heimische Banken. Italienische Staatsanleihen machen knapp 10 Prozent der Aktiva aller italienischen Banken aus (Grafik 2).
Zweifel an der Liquidität des italienischen Staats könnten die Spreads etwa gegenüber Bundesanleihen ausweiten. Steigen die Zinsen, kann aus einer Liquiditätskrise schnell eine Solvenzkrise werden. Aufgrund enormer Spielräume bei der Bilanzierung sind Banken aber in der Lage, Abwertungen sehr lange hinauszuzögern. Selbst bei Griechenland-Anleihen, die zum Höhepunkt der Eurokrise vor gut einem Jahrzehnt kurz vor dem Ausfall standen, ergaben Untersuchungen unterschiedliche Anwendungen der Bilanzregeln seitens der Banken.1
Risiko Refinanzierung im Jahr 2023
Das möglicherweise größere Risiko liegt daher in der Refinanzierung auslaufender Anleihen. Inklusive umgerechneter Fremdwährungsanleihen werden kommendes Jahr rund 367 Milliarden Euro an Anleihen fällig (Grafik 3).
Bei den klassischen, länger laufenden BTP-Anleihen, die üblicherweise die Banken auf ihre Bücher nehmen, werden rund 260 Milliarden Euro fällig, inklusive zweier variabel verzinster EU-Treasury Certificates über knapp 21 Milliarden Euro. Aber es müssen nicht nur die 260 Milliarden Euro an fälligen BTPs ersetzt werden. Denn dazu kommt das Staatsdefizit, dass die OECD für 2023 auf 94,5 Milliarden Euro schätzt. Das Defizit muss Rom logischerweise mit neuen Schulden finanzieren.
Dazu kommt, dass die EZB ihre Bilanz abschmelzen wird. Aus dem PSPP-Programm werden im kommenden Jahr Anleihen im Volumen von schätzungsweise 270 Milliarden Euro fällig. Laut Kapitalschlüssel dürften davon rund 14 Prozent italienische Anleihen sein. Wenn die EZB die Hälfte der Rückzahlungen nicht mehr investiert, würde das einen weiteren Finanzierungsbedarf Roms über rund 19 Milliarden bedeuten. Wer dazu die fälligen BTPs und das Staatsdefizit addiert, kommt also in Summe auf 373,5 Milliarden Euro an längerfristigem Finanzierungsbedarf.
Sollte der variable Anteil und der Anteil der geringen Fremdwährungsschulden bei gut 108 Milliarden Euro absolut konstant bleiben, geht es summa summarum kommendes Jahr um 481,5 Milliarden Euro, die Gläubiger Rom zur Verfügung stellen müssen. Inwieweit der heimische Bankensektor da noch zusätzlich aufnahmebereit wäre, ist eine ebenso offene Frage wie die der Zinsen, die Italien angesichts solcher Summen am ohnehin schon verunsicherten Anleihemarkt wird anbieten müssen.
Beobachtet man die neuesten Interventionen der EZB, zeigt sich, dass dieses Risiko auch dort als reale Bedrohung der wirtschaftlichen Entwicklung in Italien und – aufgrund von „Ansteckungseffekten“ (contagion) - anderen hoch verschuldeten Ländern der Eurozone angesehen wird. Auslaufende Anleihen aus Deutschland, Frankreich und den Niederlanden wurden im Rahmen des PEPP in Italien, Spanien und Griechenland reinvestiert.2 Das neue „transmission protection instrument“, kurz TPI, erlaubt der EZB den Kauf von Anleihen einzelner Länder der Eurozone mit sehr geringen Einschränkungen:
Subject to fulfilling established criteria, the Eurosystem will be able to make secondary market purchases of securities issued in jurisdictions experiencing a deterioration in financing conditions not warranted by country-specific fundamentals, to counter risks to the transmission mechanism to the extent necessary.”3
Die Enge Verkettung der Staaten der Eurozone über die Gemeinschaftswährung lässt der EZB keine Wahl, als mit aller Macht die Raten von Zinsänderungen zu verlangsamen. Ein Kommentar zu TPI von unserem Kollegen Thomas Mayer finden Sie hier.
Droht Gefahr vom Yen?
Wir wenden uns nun der japanischen Volkswirtschaft zu, die im Vergleich zu anderen führenden Industrienationen beim Zinsniveau einen Sonderweg beschreitet. Der traditionell sehr niedrig verzinste japanische Yen wird gerne für sogenannte Carry Trades genutzt. Marktteilnehmer verschulden sich dabei in Yen, um in höher verzinste Währungen anzulegen, vor allem den US-Dollar. In diesem Jahr hat sich dieses Spiel ausgezahlt. Der Yen verlor von Jahresbeginn bis Oktober rund ein Fünftel an Wert gegen den Dollar. Selbst gegen den auch eher schwachen Euro verlor der Yen zweistellig.
Doch seit dem Oktobertief hat der Yen gedreht, vorerst zumindest. Hier, in der drittwichtigsten konvertiblen Währung der Welt, könnten Risiken entstehen. Denn an der Chicago Mercantile Exchange (CME) wetten nicht-kommerzielle Investoren derzeit drei Mal mehr auf fallende Yen-Kurse als auf steigende (Grafik 4).
Japan ist das am höchsten verschuldete Industrieland der Welt
Zusätzlich ist Japan mit gut 260 Prozent Staatsdefizit zu Bruttoinlandsprodukt die am höchsten verschuldete der großen Industrienationen (Grafik 5).
Doch Japan besitzt einen Vorteil: Nur 13 Prozent dieser Schulden lagen per Ende Juni 2022 im Ausland. Damit halten Japan und seine Zentralbank im Gegensatz zu Italien oder Deutschland die Zügel in der Hand. Sollte Japan nach Jahrzehnten jedoch seine Nullzinspolitik verlassen, dann dürfte Kapital aus dem Ausland zuströmen, den Yen stärken und dem Yen-Carry-Trade den Garaus machen (siehe oben). Das wiederum könnte weltweit zu einer Liquiditätskrise führen, mit Auswirkungen auf die globalen Aktien- und Anleihemärkte.
Im Inland würden steigende Zinsen aufgrund politisch untragbarer hoher Zinsausgaben schnell zu Spekulationen über die Solvenz des japanischen Staats führen. Außerdem würden die Halter von japanischen Staatsanleihen Bewertungsverluste erleiden, wenn die Zinsen steigen. Dies dürfte vor allem die Bank von Japan treffen. Inwieweit ein Kapitalverlust der Bank von Japan das Vertrauen in die Währung unterminiert, ist ungewiss.
Klar ist, dass die Notenbanken weltweit begonnen haben, ihre Bilanzsummen durch Anleiheverkäufe zu schrumpfen, mal mehr mal weniger schnell, aber doch sichtbar (Grafik 6). Ob damit der Mangel an Kreditsicherheiten in Form von Staatsanleihen im Finanzmarkt behoben wird, ist allerdings fraglich.
Der (Reverse-)Repo Markt in den USA
Per 30. November hatte die Federal Reserve zinstragende Wertpapiere über 8.195 Milliarden Dollar auf den Büchern. Im Wesentlichen waren das langlaufende US Treasury Notes und Bonds über 4.759 Milliarden, hypothekenbesicherte Papiere über 2.661 Milliarden, inflationsgesicherte Treasuries über 376 Milliarden und kurzlaufende T-Bills über 296 Milliarden Dollar. Diese Papiere sind dem Markt als Sicherheiten entzogen.
Damit trocknet der wenig beachtete, aber wichtige Markt für besicherte Kredite (Repurchase- oder kurz Repo-Kredite) aus. Dieser ist wichtiges Schmiermittel im täglichen Handel, da Investoren über Repo-Geschäfte kurzfristige Barkredite gegen die von ihnen gehaltenen Vermögenswerte aufnehmen können.
Die Maschine läuft längst nicht mehr wie geschmiert. Das zeigen die sogenannten Reverse-Repo-Geschäfte, die die lokale New Yorker Federal Reserve zur Unterstützung der Notenbank-Politik der nationalen Washingtoner Federal Reserve (Fed) durchführt. Hierbei leihen sich Finanzinstitute, die Zugang zur Federal Reserve haben, gegen Zentralbankgeld für eine festgelegte Laufzeit Papiere aus dem Bestand der Fed, um diese als Sicherheit für Kreditaufnahmen zur Liquiditätsbeschaffung zu verwenden.
Gegenparteien für die speziellen Geschäfte der New Yorker Fed sind Banken wie Goldman Sachs oder Citibank, dazu Geldmarktfonds von Blackrock oder der amerikanischen Tochter der DWS und staatlich geförderte Unternehmen wie die Immobilienfinanzierer Fannie Mae oder Freddie Mac. Der Kreis insgesamt ist derzeit auf 99 Gegenparteien beschränkt.
In den vergangenen zwei Jahren sind diese Reserve-Repos von einer zu vernachlässigenden Größe massiv gestiegen. Zuletzt verlieh die New Yorker Fed rund ein Viertel aller Wertpapiere aus dem Bestand der Federal Reserve (Grafik 7).
Gleichzeitig hat die Erfahrung zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 gezeigt, dass die Liquiditätsbeschaffung durch Verkauf von Treasuries aus dem Bestand der Banken auch zu Engpässen führen kann, weil es plötzlich mehr Verkäufer als Käufer von Treasuries gibt.4 Interventionen der Fed am Treasury-Markt scheinen daher ein notwendiger Bestandteil zu Sicherung der Liquidität von Finanzinstituten geworden zu sein.
Dem europäischen Repo-Markt fehlt es vermutlich noch stärker an Liquidität
Im Gegensatz zur Federal Reserve schreckt die Europäische Zentralbank (EZB) davor zurück, Schattenbanken wie Geldmarktfonds Zugang zu ihren Kredit- und Einlagefenstern für Zentralbankgeld zu geben. Das könnte ein Fehler sein, da sich wegen der strengen Regulierung des Bankensektors ein erhebliches Volumen von Bankgeschäften zu Schattenbanken bewegt hat (siehe auch den gesonderten Abschnitt zu Schattenbanken).
Heimlich hat die Europäische Zentralbank jedoch die Beschränkungen für ihre Wertpapierleihgeschäfte gelockert, um der Knappheit von Sicherheiten an den Repo-Märkten entgegenzuwirken. Die Entscheidung dafür traf sie während einer nicht geldpolitischen Sitzung am 9. November 2022. Demnach ist das maximale Volumen der Wertpapiere, die die EZB in Summe gegen Zentralbankgeld verleihen kann, von 150 Milliarden auf 250 Milliarden Euro gestiegen.5 In einem ungewöhnlichen Schritt veröffentlichte die EZB nach der Entscheidung keine offizielle Ankündigung.
Laut Financial Times fordert die International Capital Markets Association (ICMA), ein internationaler Branchenverband für Kapitalmarktteilnehmer mit Sitz in Zürich, die EZB dazu auf, ähnlich wie die Fed wesentlich umfangreichere Reverse-Repo-Programme aufzulegen.6 Grund: Die deutlichen Steigerungen der Zinsen könnten zu mangelnder Liquidität führen. Der Mangel an sicheren kurzfristigen Wertpapieren könne dem Repo-Markt des Euroraums schaden, warnte die ICMA, die die größten Akteure auf den globalen Anleihemärkten vertritt, bereits Anfang des Jahres. Allein die Repo-Geschäfte von 56 Finanzinstituten, die sich an einer Studie der ICMA beteiligten, waren zuletzt enorme 4,6 Billionen Euro schwer (Grafik 8).
Market-Matching Fähigkeiten der Banken sind regulatorisch zunehmend eingeschränkt
Als zusätzliche Bremse der Liquidität in den Wertpapiermärkten gilt, dass Banken in allen Märkten wegen verschärfter Vorschriften nach der Finanzkrise regelmäßig nicht mehr als Manager von Handelsbeständen unterwegs sind, die Ebbe und Flut an den Börsen ausgleichen könnten. Sie fungieren nurmehr als Vermittler zwischen Käufern und Verkäufern, übernehmen also häufig nur noch reine Brokerfunktionen.
Inwieweit dieser Mangel an sogenanntem Market-Matching, bei dem Banken Wertpapiere wie Aktien oder Anleihen auf Lager nehmen oder vom Lager verkaufen und damit für Liquidität sorgen, Krisen an Märkten Vorschub leisten, lässt sich allerdings schwerlich vorhersagen.
Schwellenländer unter Druck
Die Rendite auf US-Treasuries ist, neben dem Leitzins der Federal Reserve, maßgeblich für große Teile des weltweiten Anleihemarktes. Sie wirkt auf den US-Hypothekenzins ebenso wie auf die Zinsen, die ausländische Schuldner zahlen, die sich im US-Dollar verschuldet haben.
Höhere Renditen bedeuten fallende Preise bei bereits am Markt umlaufenden Papieren. So brach im Zuge der deutlich gestiegenen Refinanzierungszinsen etwa der Bloomberg Emerging Markets Hard Currency Aggregate Index stark ein. Der breite Index umfasst staatliche, teil-staatliche und Unternehmens-Dollar-Schuldner aus Schwellenländern (Grafik 9).
Zu den deutlich gestiegenen Renditen bedroht auch die Stärke des Dollar die Rückzahlungsfähigkeit vieler Länder. Denn je höher der Dollar im Kurs notiert, desto teurer wird es für die Schuldner, die Heimatwährung in Dollar zu tauschen, um Kredite zu bedienen.
Und mit der Bonität ist es oft ohnehin schon nicht so weit her. So haben 87 von 185 Länderschuldnern weltweit ein Junk- oder gar kein Rating für ihre auf Fremdwährung laufende Kredite. Anleger haben deshalb schon die Flucht ergriffen. Laut J.P. Morgan zogen Investoren aus Schwellenländeranleihefonds in diesem Jahr bereits 70 Milliarden Dollar ab. Das wäre der größte Abfluss an Geldern seit Beginn der Datenerfassung 2005.7
Die Immobilie als „sichere“ Anlage – ganz so eindeutig ist der Fall nicht
Wir wenden uns nun dem europäischen Immobilienmarkt zu. Insbesondere Immobilien gelten landläufig als „sichere“ Anlagen. Ein Vermögensaufbau, der auf dieser Anlageformen basiert, ist scheinbar risikolos. Dabei gibt es gute Gründe auch diese Anlageklasse einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Die enormen Preissteigerungen von deutschen Immobilien der vergangenen Jahre sind im FvS Vermögenspreisindex wohldokumentiert.8 Auch der amerikanische FHFA US House Price Index hat sich seit dem Jahr 2000 trotz der Subprime-Krise der Jahre 2007 bis 2009 verdreifacht.9 Mit anderen Worten konnte man mit Immobilien in den vergangenen 20 Jahren eine Rendite von circa fünf Prozent pro Jahr erzielen (Grafik 10).
Dies sind Renditen, die man von als riskant eingestuften Anlagen wie Aktien kennt. Liegt hier also eine Anlageklasse vor, die „sichere“ Gewinne in Höhe riskanter Anlagen bietet. Oder anders gefragt: Gibt es Argumente, dass auch bei Immobilien innerhalb kurzer Zeit Wertverluste von 20 bis 30 Prozent eintreten können, wie man sie vom Aktienmarkt kennt? Wer in der Vergangenheit nicht direkt in Immobilien, sondern in Aktien von Immobilienkonzernen investierte, hat genau diese Erfahrung schon gemacht (Grafik 11).
Im Zeitraum Anfang 2014 bis Herbst 2021 hatte sich der Aktienkurs von Vonovia, des größten deutschen Immobilienunternehmens, verdreifacht. Seit Herbst 2021 hat er sich halbiert.
Der amerikanische Nobelpreisträger Robert Shiller vermutet für den amerikanischen Immobilienmarkt fallende Preise und erinnert in einem Artikel für die New York Times vom 28. September 2022 insbesondere an die Jahre 2005 bis 2012:
„I think that real (inflation adjusted) home prices will likely be a lot lower in a few years, but this is not certain. After real home prices peaked in December 2005, they fell 36 percent by February 2012. But it took over six years to drop that much, and real prices then shot up 77 percent from February 2012 to June 2022. “ 10
Als einen der Hauptgründe für den rapiden Preisanstieg sieht er die „fear of missing out“, also das Verpassen des vermeintlichen Traumhauses aufgrund von Inaktivität. Dies treibe die Menschen zu hektischen Kaufentscheidungen. Ein Phänomen, dass beim Einfamilienhauskauf besonders verbreitet sei, da dort meist unerfahrene Käufer auftreten.
Es finden sich also Beispiele, die gegen eine Klassifizierung von Immobilien als sichere Anlage sprechen. Kurs- oder Wertverluste sind nicht auszuschließen. Beim Kauf eines Eigenheims rät Robert Shiller die Investition aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten:
„If you think you are in love today with a house, one could well argue that acquiring it right now makes sense. But this is clear only if in your heart you are really in love with it. “
Bei den Immobilienbesitzer und -krediten liegen die Risiken im Norden Europas
Wer trägt nun aber die Risiken im Immobiliensektor? Zinserhöhungen schlagen vor allem dann auf Immobilienbesitzer durch, wenn die ausstehende Kreditbelastung im Vergleich zum Einkommen hoch und die Dauer der Zinsbindung niedrig ist. Ein europäischer Vergleich zeigt zunächst die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse in den einzelnen Ländern Europas (Grafik 12).
In Südeuropa leben mehr Menschen in der eigenen Immobilie als im Norden. Da nur geringe Kreditverpflichtungen bestehen, gibt es für diese Menschen auch kein Zinsänderungsrisiko – Wertverluste am Immobilienmarkt treffen sie ebenfalls kaum. Sollten sie ihr Haus gegen ein anderes „eintauschen“ wollen, so haben sich die Preise im Verhältnis zueinander vermutlich kaum geändert. Überdies besteht stets die Möglichkeit im eigenen Haus wohnen zu bleiben – was allerdings manchem Geringverdiener oder Rentner aufgrund von Steuern, Abgaben und Erhaltungsaufwendungen einen negativen Cash-Flow beschert. Dagegen leben in Norwegen, Schweden und den Niederlanden mehr als 40 Prozent der Menschen in einer Immobilie, die mit einem Kredit belastet ist.
Zinsänderungen schlagen im europäischen Vergleich insbesondere in Norwegen und Schweden unmittelbar auf die Kredite durch. In Schweden besitzen über 40 Prozent der im Jahr 2021 ausgegebenen Kredite eine Zinsbindung von maximal einem Jahr. In Norwegen sind es über 90 Prozent (Grafik 13).
Überdies haben sich die Norweger als einzige der untersuchten Nationen nicht dem Trend zur Reduzierung dieses Anteils angeschlossen.
Es bleibt damit zu klären, ob die Kredite auch bei steigenden Zinsen weiter bedient werden können. Andernfalls droht der Verlust der Immobilie, bei gleichzeitiger Unterdeckung der ausstehenden Kreditsumme. Wir vergleichen hierzu ausstehenden Kreditsummen mit dem jährlichen verfügbaren Einkommen (Grafik 14).
Auch hier finden wir Schweden und Norwegen unter den Spitzenreitern. Pro Kopf betrachtet sind die Menschen dort um fast zwei verfügbare Jahreseinkommen verschuldet. Dass diese Situation, insbesondere in wirtschaftlich unsicheren Zeiten, schnell zum Problem werden kann, zeigt die von der schwedischen Finanzmarktaufsicht von April 2020 bis Juni 2021 eingeräumte Möglichkeit zur Tilgungsaussetzung von Immobilienkrediten: Banken und Kreditnehmer konnten vereinbaren die gesetzlich vorgeschriebene jährliche Mindesttilgung von ein bis drei Prozent der Kreditsumme vorübergehend auszusetzen.
Bei Immobilien haben wir oben bereits eine Entwicklung hin zu längerfristigen Zinsbindungen in Mitteleuropa gesehen. Die tendenziell anfälligeren Kredite in Norwegen und Schweden sind zwar auch pro Kopf gemessen die Spitzenreiter in Europa. In absoluten Zahlen bleibt das Risiko aber mit gut 800 Millionen EUR überschaubar (Grafik 15). Zum Vergleich: die in den USA Anfang 2007 ausstehende Immobilienkreditsumme betrug circa zehn Billionen Dollar.11 Darüber hinaus befinden sich weder Schweden noch Norwegen im europäischen Währungsraum, was eine Weiterverbreitung von Schockwellen zusätzlich dämpfen kann.
Im Immobilienbereich lässt sich ein Nord-Süd-Gefälle hinsichtlich des Risikos konstatieren. Oder vereinfacht gesprochen: Die Italiener leben vermehrt im eigenen, schuldenfreien Haus, während die Norweger und Schweden, statt Miete zu bezahlen, einen Kredit tilgen, dessen Zinslast starken Schwankungen ausgesetzt sein kann.
Da die Politik momentan zusätzlich europaweit durch Subventionen die Wohnnebenkosten künstlich niedrig hält und somit zusätzlich Druck von den Krediten nimmt, ist auf der Immobilienseite damit in Europa aktuell lediglich im hohen Norden eine offene Flanke erkennbar.
Zum Abschluss des Abschnitts über Immobilien schauen wir noch in die USA, waren die dort vergebenen Subprime Immobilienkredite doch Auslöser der letzten großen Wirtschaftskrise 2007/08. Traditionell waren Hypothekenkredite mit variabler Verzinsung kurz nach der Jahrtausendwende in den USA sehr populär. Dies hat sich jedoch geändert (Grafik 16).
Heutzutage sind nur noch knapp zehn Prozent der ausgegebenen Immobilienkredite beziehungsweise 17 Prozent der ausgegebenen Kreditsummen mit Zinsanpassungen versehen.12 Gleichzeitig reduzierte sich die Verschuldung in Prozent des verfügbaren Jahreseinkommens zwischen 2010 und 2018 von knapp 90 Prozent auf 70 Prozent13 und liegt damit in einer Größenordnung, wie wir sie aus Frankreich und Deutschland kennen (vgl. Grafik 14) und dort als weitestgehend unbedenklich bewertet haben. Eine exakte Wiederholung der Geschichte von 2007/08 erscheint uns daher nicht plausibel. Wir werden allerdings später im Abschnitt über Schattenbanken ein Szenario zu Immobilienfonds skizzieren, welches einer ähnlichen Dynamik folgen könnte.
Bei Anleihen bot sich in den letzten Jahren ein ruhiges Fahrwasser. Zwar waren am Anleihenmarkt nur geringe Nominalzinsen zu erzielen, durch dauerhaft niedrige Zinsniveaus waren jedoch zumindest die Kurse stabil. Im Idealfall konnte man durch die sinkenden Zinsen sogar leichte Kursgewinne realisieren und jederzeit, auch vor Ende des Ablaufs der Anleihe, sein investiertes Kapital ohne Wertverlust zurückbekommen. Diese Ruhe basierte vor allem auf der massiven Einflussnahme der Zentralbanken auf den Markt: niedriger Leitzins, massenhafter Anleihenkauf und Vermehrung der Geldmenge stabilisierten lange Zeit den Anleihenmarkt. Nachdem die Inflation Zinserhöhungen unumgänglich machte, verloren Anleihen in den vergangenen sechs Monaten jedoch ähnlich an Wert wie Aktien. Vergleicht man den MSCI World mit dem iBoxx Eurozone Government Bond Index sieht man die gleichlaufenden Kursverluste seit Beginn des Jahres 2022 (Grafik 17).
Das oft gehörte Argument, dass Aktien und Anleihen negativ korreliert seien und für Diversifikation sorgen, erwies sich als falsch. In einem Artikel aus dem Spätsommer 2021 wies Bernd Meyer von der Privatbank Berenberg ebenfalls daraufhin, dass dieser Zusammenhang historisch nicht belegt werden kann. Vor allem abhängig von der Inflation, beeinflusst aber auch durch die Zinspolitik der Zentralbank und der Stimmung an den Märkten könne in zwei Regime am Kapitalmarkt unterschieden werden:
„Die Beziehung zwischen der Entwicklung von Aktien und
Staatsanleihen in den USA war bei einer Kerninflationsrate oberhalb von 3% historisch fast ausnahmslos positiv. In einem Umfeld erhöhter und höherer Inflation verhalten sich Aktien und Anleihen also tendenziell gleichgerichtet. Bei einer Kern-inflation unterhalb von 2% hingegen haben sich Aktien und Anleihen größtenteils gegenläufig entwickelt.“ 14
Es finden sich also wie bei Immobilien Belege, dass das Bild vom sicheren Hafen nicht uneingeschränkt gilt: Auch Anleihen können stärkeren Wertschwankungen ausgesetzt sein. Zudem ist ihre ausgleichende Wirkung auf ein Aktienportfolio nicht immer gegeben. In diesem Sinne verwendet ist der Begriff „sicheren“ Anlage irreführend.
Wenn Anleihen kein sicherer Hafen sind, wie sind sie dann über die Welt verteilt? Liegt ausreichend Vernetzung für größere Friktionen vor? Beginnen wir exemplarisch mit deutschen Staatsanleihen. In welchem Gesamtwert existieren diese und wer sind die Käufer? Die Bundesbank hat hierzu für das Jahr 2017 eine Übersicht erstellt (Grafik 18).
Über 40 Prozent werden in Drittländern gehalten und fast 20 Prozent von anderen EU-Staaten. 30 Prozent verbleiben im Inland. Deutsche Staatsanleihen werden also international gehalten. Damit sind sie insbesondere stärker vernetzt im Finanzsektor als beispielsweise ihre britischen Gegenstücke.
Diese befinden sich nur zu 28 Prozent in ausländischem Besitz.15 Ein rapider Wertverfall deutscher Staatsanleihen würde also weltweite Auswirkungen haben. Diese Überlegungen gelten noch mehr für US-Staatsanleihen, die weltweit als „sichere Anlage“ genutzt werden.
Um den Faktor 15 auf zuletzt 63,6 Billionen Dollar sind seit 1990 die Schulden von Unternehmen mit ordentlicher bis sehr guter Bonität (sogenannter Investmentgrade) nach oben gegangen, gemessen am Bloomberg Aggregate Corporate Debt Index (Grafik 19).
Das Welt-Bruttoinlandsprodukt ist seither um nur rund den Faktor 5 gestiegen. Die hohen Schulden müssen wohl zum größten Teil refinanziert werden, sollten nicht Mittelzuflüsse aus den Geschäften der Unternehmen oder andere Finanzierungsquellen wie Eigenkapital zur Deckung herangezogen werden können
Binnen fünf Jahren, inklusive 2022, stehen allein aus dem Universum von Standard & Poor’s, das den weitaus größten Teil an Unternehmensratings abdeckt, elf Billionen Dollar zur Neufinanzierung an, davon knapp 2,9 Billionen Dollar aus der Schrottklasse, von Unternehmen also, die eine schwache Bonität haben.
Das sind hohe Volumina, die auf deutlich erhöhte Zinsforderungen von Gläubigern treffen. Grund sind die im Zuge der Leitzinserhöhungen der Notenbanken auch deutlich höheren Renditeniveaus nahezu aller Anleihen.
So ist der nach der Größe der Volkswirtschaften gewichtete aggregierte globale Leitzins von seinem Tief von unter zwei Prozent im Jahr 2021 auf zuletzt rund 4,7 Prozent gestiegen. Parallel dazu stiegen etwa die Refinanzierungskosten für Junkbonds im Laufe des Jahres im Durchschnitt um zuletzt 2,2 Prozentpunkte an. In der Spitze lag der Aufschlag diesen Herbst schon bei gut drei Prozentpunkten.
Allenthalben sind die Schulden gestiegen. Private Haushalte, Unternehmen, der Finanzsektor und die Regierungen haben in der vergangenen zehn Jahren neue Schulden von mehr als 80 Billionen Dollar gemacht. Die Summe lag per Ende März 2022 bei 305 Billionen Dollar. Zum Vergleich: Das Welt-Bruttoinlandsprodukt wird für dieses Jahr bei 104 Billionen Dollar erwartet.
Am Rentenmarkt summierten sich die Kursverluste dieses Jahr auf zweistellige Billionenbeträge. Ein Einzelfall demonstriert den Crash: Wer vor zwei Jahren eine als ziemlich ausfallsichere geltende Anleihe eines großen europäischen Telekomkonzerns mit Laufzeit von damals knapp 20 Jahren kaufte, der verlor in der Spitze 40 Prozent. Demgegenüber legte die Aktie dieses Konzerns über denselben Zeitraum um 30 Prozent zu.
Seit Ende der Finanzkrise 2009 ist auch der Markt für riskante Unternehmenskredite stetig gewachsen. Angetrieben von niedrigen Zinsen wuchs insbesondere die ausstehende Kreditsumme für sogenannte Leveraged Loans von knapp drei Billionen auf fast sechs Billionen Dollar im Jahr 2019.16 Umgangssprachlich sind dies Kredite, welche von Unternehmen aufgenommen werden, die deutlich über dem Branchenstandard hinaus verschuldet sind.17 Der Zins dafür sollte laut S&P mindestens 125 Basispunkte über dem kurzfristigen Zinssatz LIBOR (London Interbank Offered rates) liegen, falls der Schuldner BB+ oder schlechter geratet ist. Die Ausfallraten liegen in der Regel in der Größenordnung von 20 Prozent.
Aufgrund der strikteren Bankenregulierung ist das Geschäft mit Leveraged Loans in den Sektor der sogenannten Schattenbanken (non-bank financial institutions) abgewandert. Teile dieser Kredite werden über sogenannte CLOs (collateralized loan obligations) am Kapitalmarkt gehandelt. Der Markt ist in den Jahren 2009 bis 2019 von 400 Milliarden auf fast 800 Milliarden gewachsen. Wurden die Leveraged Loans um die Jahrtausendwende noch hälftig von Banken und Schattenbanken gehalten, so befinden sich mittlerweile über 90 Prozent in den Händen von institutionellen Investoren außerhalb des klassischen Bankensektors.
Nun gibt es zwei Lesarten der Situation: Man kann sich zum einen auf den Standpunkt stellen, dass fast sechs Billionen Dollar Kreditsumme im Vergleich zu den oben genannten 305 Billionen Dollar an insgesamt ausstehenden Krediten lediglich zwei Prozent ausmachen und (systemrelevante) Banken gar nicht an diesen Geschäften beteiligt sind. Gewarnt wurde schon 2019 und selbst während der Corona-Pandemie ist der Markt nicht implodiert. Anders gesprochen: Viel Lärm um nichts und im Grunde ist alles gut.
Oder man zieht die Analogie zur Subprime Krise: Sechs Billionen und zehn Billionen ausstehende Kreditsumme liegen in derselben Größenordnung (siehe Abschnitt zu Immobilien), die handelnden Institutionen sind kaum reguliert und Teile des Risikos wurde in strukturierten Produkten an den Kapitalmarkt weitergegeben. Damit läge eine Situation vor, die der unmittelbar vor Ausbruch der Finanzkrise von 2007 auf dem amerikanischen Immobilienmarkt ähnelt.
Wir schließen uns der zweiten Argumentation an, schränken den Vergleich jedoch etwas ein: Es ist unklar, ob unter institutionellen Investoren ähnliche Vernetzung herrscht wie unter Banken während der Subprime Krise. Somit kann man nur spekulieren, welche gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen eine Krise einiger institutioneller Investoren hätte. Wir nehmen den Gedanken in einem gesonderten Abschnitt über Schattenbanken später aber nochmals auf.
Im Folgenden werfen wir einen Blick auf Pensionsfonds. Diese waren schließlich Katalysator der Krise in Großbritannien und besitzen meist feste Leistungszusagen für die Beitragszahler beziehungsweise technisch formuliert Rückstellungen für zukünftige Leistungen auf Risiko des Pensionsfonds. Wir konzentrieren unsere Analyse auf die Niederlande, da das dortige Berichtswesen für hohe Transparenz sorgt und der Markt aufgrund der Popularität betrieblicher Altersvorsorge eine substanzielle Größe aufweist. Insgesamt befinden sich rund 1,6 Billionen Euro Assets under Management (AuM), wovon die größten zwei Fonds zusammen rund 45 Prozent halten.18
Der Marktführer in den Niederlanden heißt ABP und gehört mit fast 600 Milliarden Euro AuM zu den drei größten Pensionsfonds weltweit. Er weist eine Anleihequote von 39,3 Prozent auf.19
Die Staatsanleihen machen ungefähr die Hälfte der Anleihen aus und sind breit über Europa und die USA verteilt.20 Es besteht also erstmal kein Klumpenrisiko bezüglich einer einzelnen Volkswirtschaft (Grafik 20).
In Holland wurden den Sparern jedoch in der Vergangenheit, wie auch in Großbritannien, Mindestrenten, sogenannte „defined-benefits“, versprochen.21 Im Falle der Unterdeckung eines Pensionsfonds können diese Mindestrenten zwar theoretisch nach unten angepasst werden, zunächst trägt jedoch der Pensionsfonds das Risiko nicht auskömmlicher Renditen der Kapitalanlage. Eine tatsächliche substanzielle Anpassung der versprochenen Leistungen nach unten würde überdies von den Sparern vermutlich als Wortbruch aufgefasst und birgt folglich erheblichen politischen Sprengstoff Sie ist daher wohl als Option zu verstehen, die es unbedingt zu vermeiden gilt.
Um sich daher insbesondere gegen Zinssenkungen bei Anleihen abzusichern, wurden in Großbritannien unter dem Stichwort „Liability-Driven-Investment“ vielfach Zinsswaps eingesetzt (mit denen man feste Zinsen erhalten und variable Zinsen bezahlen kann). Die unerwartete Angebotsschwemme von 30-jährigen britischen Staatsanleihen und der damit verbundene Zinsanstieg führte zu Margin-Calls auf die Swaps, welche die Fonds oft nur durch den Verkauf von ihnen gehaltener Staatsanleihen finanzieren konnten. Es kam zu einer Rückkoppelungsschleife im Preisverfall der „Gilts“. In der Bilanz von ABP finden sich auch Derivate. Ihre Funktion und der Umgang mit dahinterliegenden Sicherheiten werden wie folgt erklärt:
„ABP uses derivatives to mitigate risks or make rapid tactical changes in the asset mix. ... Additional deposits or partial withdrawals of collateral are made, in principle, on a daily basis, as determined by movements in the position. Derivatives are mainly used to hedge currency and interest rate risks.” 22
Es steht also zu vermuten, dass ABP ähnliche Mechanismen wie das in Großbritannien praktizierte „Liability-Driven-Investment“ benutzt.23 Dem gegenüber stehen allerdings die breite Diversifikation im Anleiheportfolio, die niedrige Anleihequote von knapp 40 Prozent und der hohe Deckungsgrad der Verpflichtungen bei ABP von fast 120 Prozent.
Insgesamt lagen die Ansprüche der privaten Haushalte an Versicherungs-, Alterssicherungs- und Standardgarantie-Systeme laut Finanzierungsrechnung der Deutschen Bundesbank im Jahr 2021 bei 2.574 Milliarden Euro. Das war immerhin ein Anteil von 33,8 Prozent an ihrem gesamten Brutto-Geldvermögen in Höhe von 7.618 Milliarden Euro. 1.162 Milliarden Euro entfielen auf Ansprüche aus Rückstellungen bei Lebensversicherungen.
Die Ansprüche aus Rückstellungen bei Alterssicherungssystemen, Ansprüche von Alterssicherungssystemen an die Träger von Alterssicherungssystemen und auf andere Leistungen als Alterssicherungsleistungen betrugen im Jahr 2021 gut 979 Milliarden Euro. Knapp ein Fünftel davon verwalten Pensionskassen. Die sind wegen der Niedrigzinsen so unter Druck geraten, dass um die 40 von ihnen unter strenger Beobachtung der Finanzaufsicht BaFin stehen. Rund 41 Prozent ihrer Anlagen sind direkt zinstragend (Grafik 21).
Trotz Problemen ist es jedoch unwahrscheinlich, dass von dieser Seite Druck auf die Märkte kommen könnte. Swap-Geschäfte bei Anleihen ähnlich wie in Großbritannien sind nicht bekannt. Zudem können im Zweifel Ansprüche von Anspruchsberechtigten gekürzt oder die hinter den Kassen stehenden Unternehmen herangezogen werden. Und am Ende steht noch der Pensionssicherungsverein, der zumindest kleinere Kassen auffangen könnte.
Private Equity Investoren scheinen 2022 von der Talfahrt der Kurse öffentlich gehandelter Unternehmen 2022 weitestgehend verschont geblieben zu sein. Während der Privat Market Index des Investmentberatungsunternehmens Lincoln in den ersten drei Quartalen um 3,2 Prozent zulegte, verlor der S&P 500 EV, das heißt als Index gemessen in Unternehmenswerten ohne Finanzunternehmen, gut 22 Prozent.24 Sollten nicht öffentlich gehandelte Unternehmen Inflation, steigenden Zinsen und Lieferkettenproblemen besser widerstanden haben? Auf einzelne Unternehmen mag das zutreffen, genauso wie es unter den öffentlich gehandelten Unternehmen auch Krisengewinner gab. In der Breite eines Index ist es aber zunächst einmal erstaunlich.
Wir vermuten dahinter steht ein anderer Grund. Während Anteile von Unternehmen aus dem S&P 500 täglich in großer Zahl gehandelt werden und der Aktienkurs somit die Erwartungen der Marktteilnehmer zeitnah widerspiegelt, basiert die Bewertung von Private Equity häufig auf individuellen Modellen mit eigenen Annahmen zum Zins und Projektionen des zukünftigen Cash-Flows.25 Wir vermuten daher, dass die Erträge im Private Equity Bereich durch die angewandten Bewertungsmethoden künstlich geglättet werden und stille Lasten vorliegen. Das Ausmaß scheint allerdings begrenzt, sofern man die Abwertungen des S&P 500 als Vergleichsgröße zu Rate zieht und bedenkt das in dieser Investitionskategorie mit einem Marktvolumen von rund fünf Billionen Dollar vermehrt langfristig orientierte (und wohlhabende) Anleger investiert sind.26
In einem Brief an die G20 Staatschef weist der Vorsitzende des Financial Stability Boards (FSB), auf mögliche Risiken aus dem Bereich der sogenannten Non-Banking Financial Institutions, wie beispielsweise Versicherer oder Clearing-Stellen hin. Dafür wird umgangssprachlich auch der Begriff Schattenbanken verwendet. Diese hielten im Jahr 2020 insgesamt 227 Billionen Dollar an Finanzanlagen (inklusive Derivate und Bargeld), was 48 Prozent aller weltweit gehaltenen Finanzanlagen entspricht. Damit übersteigen diese die Assets von Banken und Zentralbanken zusammengenommen.27
Besonderes Augenmerk möchte das FSB 2023 auf die Aufdeckung von „hidden leverage“ legen, das heißt auf Geschäfte mit Fremdkapital, die nicht in den Bilanzen der Marktteilnehmer ausgewiesen sind. Zusätzlich nimmt das FSB potenzielle Liquiditätsklemmen von Investment-Fonds in den Blick. Es nennt ein Missverhältnis zwischen Auszahlungsmodalitäten der Fonds und der kurzfristigen Liquidierbarkeit der Assets als Problem in Zeiten hoher Volatilität.28
Ein erstes Beispiel für solche zunächst abstrakten Verwerfungen erkennt man momentan bei amerikanischen Immobilienfonds. Wir skizzieren dies im nächsten Abschnitt genauer:
Zum klassischen Private-Equity-Markt, der von Käufen von nichtbörsennotierten und börsennotierten Unternehmen oder Teilen von Unternehmen geprägt ist, kommen noch weitere private Investments dazu: etwa in nichtbörsennotierte Schuldtitel (Private Debt), Immobilien und Infrastruktur. In ihnen stecken noch einmal rund 2,6 Billionen Dollar Anlagekapital. Und im Gegensatz zu klassischen Private Equity Fonds lassen diese Instrumente in begrenztem Umfang Verkäufe von Anteilen zu.
Der nach eigenen Angaben weltgrößte Investor in kommerzielle Immobilien, eine bekannte US-Private-Equity-Gesellschaft, managt allein ein Immobilienportfolio über 565 Milliarden Dollar für seine Anleger. Darunter auch ein Immobilienfonds (REITs) für einigermaßen wohlhabende Normalanleger über 70 Milliarden Dollar, der unter anderem in Studentenapartments und Casinos investiert.
Sollte es hier zu Schwierigkeiten kommen, könnte dies eine Kaskade auslösen. Denn die Investments sind zum Teil fremdfinanziert. Wie hoch, das lässt sich erahnen. Nach Angaben aus dem vergangenen Jahr stehen dem aktuellen Wert der Immobilien 37 Prozent an investierten Kapital gegenüber. Das spricht für eine Fremdfinanzierung von gut 60 Prozent. Dies wäre über alle Private-Equity-Klassen hinweg branchenüblich, für Immobilien sogar als konservativ zu bezeichnen. Allerdings: Können die Mieter ihre Raten nicht mehr stemmen und verteuern sich die Refinanzierungen auf Seite des Private-Equity-Investors, dann kommen die Portfolios unter Druck, zumal die Investoren zumindest zum Teil ihrerseits Geld abziehen könnten.
Und das passiert gerade schon: So hat aktuell eine Investmentgesellschaft die Rücknahme von Anteilen am Fonds eingeschränkt, nachdem vierteljährliche Rückkaufslimits überschritten worden sind. Baut sich hier also Druck auf, weil solche Entwicklungen auch die Kreditgeber der Immobilien registrieren dürften?
Über entsprechende (Leveraged) Loans wiederum, sitzen diese möglicherweise im selben Boot. Hier zeigt sich das Problem, das viel Geschäft von den Banken auf die Schattenbanken übergegangen ist. Im Reich der Schattenbanken ist zwar keine Anlagegesellschaft „too big to fail“, aber möglicherweise sind es dieses Mal „too many to fail“.
Der US-Immobilienmarkt könnte also erneut ein Katalysator für eine Krise sein. Das private Kapital von vermögenden Privatanlegern könnte Verluste zwar absorbieren, aber die gehebelten Kredite könnten wieder einmal systemisch werden.
Wie schnell auch einzelne Fälle weltweit Probleme bereiten können, zeigt der Zusammenbruch des sogenannten Family Office Archegos Capital Management. Im Frühjahr 2021 lösten Verluste bei gehebelten Aktienpositionen zweistellige Milliardenverluste und den Zusammenbrauch von Archegos aus, in die unter anderem Hedgefonds und bekannte Banken involviert waren. Allein der Bankensektor musste Abschreibungen über zehn Milliarden Dollar tragen – dabei war Archegos ein vergleichsweise kleiner Fisch.
Die vorgebrachten Bedenken des FSB gegen die mangelnde Regulierung im Schattenbanken-Sektor erscheinen, insbesondere im Licht der genannten Beispiele, plausibel. Allein aufgrund der schieren Marktgröße müsste das Risiko kartografiert werden. Die Beispiele unterstützen die Notwendigkeit jedoch zusätzlich. Wir entscheiden uns für eine Einordnung in die Kategorie ungewiss, da der historische Vergleich aufgrund der Neuartigkeit der Entwicklung schwerfällt.
Unsere Karte der Risiken umreißt die uns „bekannten Unbekannten“ („known Unkowns“). Wir haben versucht, in dieser Kategorie höhere und geringere Risiken zu identifizieren. Doch die Unsicherheit bleibt - in den Worten des US-Ökonomen Frank Knight - „radikal“. Grund dafür sind die sogenannten „unbekannten Unbekannten“ („unknown Unknowns“), die erst ex-post zu „Bekannten“ werden
Insgesamt ergibt sich ein Bild, das alle Akteure nachdenklich stimmen sollte. Die sprichwörtliche „Zeitenwende“ auch beim Zins dürfte viele Schwachstellen im Finanzsektor mit mehr oder weniger großen Konsequenzen aufdecken. Der Investor sollte daher für unvorhergesehene Einschläge Finanzpuffer vorhalten. Leider folgt die Politik einer anderen Handlungslogik. Da sie zur finanziellen Vorsorge unfähig ist, muss man damit rechnen, dass sie unerwartet auftretende Finanzlücken mit neuer Geldschaffung stopfen wird. Obwohl man eine deflationäre Wirkung nicht ausschließen kann, halten wir im Falle neuer Finanzkrisen eine weitere Anfachung der Inflation für wahrscheinlicher.
1 https://www.esma.europa.eu/sites/default/files/library/2015/11/2012-482.pdf
2 https://www.ft.com/content/b53f2254-9409-432a-9755-62c621e3f552
3https://www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2022/html/ecb.pr220721~973e6e7273.en.html
4 https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3823293
5 https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/app/lending/html/index.en.html
6 https://www.ft.com/content/9f4dadb1-c538-4c50-802b-55c5a22e098e
7 https://www.ft.com/content/fe34de37-9389-4672-81a3-738cc044d4a6
8 https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/fvs-vermoegenspreisindex-deutschland/
9 https://www.fhfa.gov/DataTools/Downloads/Pages/House-Price-Index-Datasets.aspx
10 https://www.nytimes.com/2022/09/28/opinion/housing-prices-pandemic.html
11 https://fred.stlouisfed.org/release/tables?rid=52&eid=1192326&od=2007-01-01
13 https://hypo.org/app/uploads/sites/2/2022/09/HYPOSTAT-2022-FOR-DISTRIBUTION.pdf
1 7https://www.imf.org/en/Blogs/Articles/2018/11/15/sounding-the-alarm-on-leveraged-lending
19 https://www.abp.nl/english/financial-situation/annual-report
20 https://www.abp.nl/images/top-100-investments.pdf
21 https://www.ons.gov.uk/peoplepopulationandcommunity/personalandhouseholdfinances/incomeandwealth/bulletins/pensionwealthingreatbritain/april2018tomarch2020 und https://www.pfzw.nl/content/dam/pfzw/web/about-us/Annual%20report%20PFZW%202021.pdf
22 https://www.abp.nl/english/financial-situation/annual-report, Seite 153
04.08.2022 - Makro
von Thomas Mayer
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