29.10.2021 - Kommentare
Die Europäische Zentralbank hat auf ihrer gestrigen Ratssitzung beschlossen, die Leitzinsen unverändert zu lassen. Zudem sieht die EZB weiterhin Bedarf für ihre Anleihekaufprogramme. Die Preisentwicklung im Euroraum würde zwar länger anhalten als bisher von der EZB erwartet, würde im nächsten Jahr aber fallen. Sowohl mit ihrer Politik als auch mit ihren Erwartungen für die Zukunft ist die EZB in jeder Hinsicht hinter der Kurve.
Um das symmetrisches Inflationsziel der EZB von 2 % zu erreichen, will der EZB-Rat die Leitzinsen so lange auf ihrem aktuellen oder sogar auf einem niedrigeren Niveau fixieren, bis die Inflationsrate deutlich vor dem Ende des EZB-Projektionszeitraums 2 % erreicht und die Inflationsrate diesen Wert im weiteren Verlauf des Projektionszeitraums dauerhaft halte. Erst wenn der EZB-Rat der Auffassung ist, daß die Entwicklung der zugrunde liegenden Inflation hinreichend fortgeschritten sei, um mit einer sich mittelfristig bei 2 % stabilisierenden Inflation vereinbar zu sein, soll die Politik geändert werden. „Dies geht unter Umständen damit einher, dass die Inflation vorübergehend moderat über dem Zielwert liegt.“1
Im Euroraum lag die Inflationsrate im September bei 3,4 Prozent, in Deutschland bei 4,1 Prozent. Nach vorläufigen Berechnungen ist die Inflationsrate in Deutschland im Oktober auf 4,5 Prozent gestiegen. Es wird in Deutschland für November sogar eine Inflationsrate von über 5 Prozent erwartet. Wenn die Einschätzung des EZB-Rates richtig ist, dann müßten diese Werte für die Inflationsrate in den nächsten Monaten deutlich sinken. Aber was passiert, wenn das nicht der Fall sein sollte? Wird die EZB dann wirklich die Leitzinsen deutlich erhöhen und das auf ein Niveau, so daß man von einer Zinswende, die diesen Namen auch verdient, sprechen kann?
Wohl kaum. Denn bereits nur moderate Zinserhöhungen könnten die Schuldentragfähigkeit der meisten EU-Mitgliedsstaaten sofort belasten. Und eine Zinswende, die diesen Namen auch verdient, dürfte die Schuldentragfähigkeit einiger EU-Mitgliedstaaten wie beispielsweise Italien sogar sprengen. Daß ein italienischer Staatsbankrott Auswirkungen auf die ganze Eurozone hätte, liegt auf der Hand. Die EZB hat in den letzten Jahren alles unternommen, um ein Herausbrechen von Italien aus der Eurozone zu verhindern. Aber auch Frankreichs Schuldentragfähigkeit würde bereits bei moderaten Zinserhöhungen enorm belastet werden. Die EZB wird deshalb möglichst lange eher deutlich höhere Inflationsraten zulassen, als durch Zinserhöhungen die gesamte Eurozone unter Druck zu setzen.2 Die Rechtfertigung dafür schafft sie sich mit ihren wiederkehrenden Prognosen eines Rückgangs der Inflation unter 2% über die nächsten drei Jahre selbst.
Die Frage ist jedoch, wie lange das politisch gutgeht. Einerseits verringert die Schönfärberei der Inflationsaussichten die Glaubwürdigkeit der EZB. Und andererseits ist die Bereitschaft, höhere Inflationsraten in Kauf zu nehmen, in den verschiedenen EU-Mitgliedsländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die bisherigen Interessenunterschiede zwischen fiskalpolitisch solideren Nord-Euroländern und fiskalpolitisch unsolideren Süd-Euroländern dürften sich daher verstärken. Euro-Austrittsdrohungen könnten wieder sehr schnell erhoben werden. Denn die politische Lage in vielen EU-Mitgliedsländern dürfte sich durch länger anhaltende hohe Inflationsraten verändern. Sowohl rechte als auch linke populistische Parteien könnten erneut Zulauf erhalten und die Polarisierung in der EU weiter vorantreiben. Die Inflation dürfte der Haupttreiber dieser Entwicklung sein.
Sollte sich die Inflation verstetigen, was im Moment wahrscheinlich ist, dann wird der politische Handlungsdruck in den einzelnen Mitgliedsländern steigen, wie man jetzt bereits in Frankreich sehen kann. In Anlehnung an die unwirksamen Preiskontrollen während der Stagflation der 1970er Jahre in den USA werden zur Vermeidung neuer Gelbwesten-Proteste wegen der hohen Energiepreise massive Markteingriffe vorgenommen.
Wenn die Inflation sehr niedrig ist, dann sind für die Menschen Null- und Negativzinsen schon ärgerlich. Wenn die Inflation aber deutlich über längere Zeiträume steigt, dann können Null- und Negativzinsen zur politischen Zeitbombe in den einzelnen EU-Mitgliedsländern werden. Die hohen Inflationsraten sind für die EZB zwar noch kein Gamechanger, politisch könnte sich das Spiel in der EU jedoch schneller ändern, als es der EZB lieb ist.
1 Vgl. Pressemitteilung der EZB vom 28. Oktober 2021, online: www.ecb.europa.eu/press/pr/date/2021/html/ecb.mp211028~85474438a4.de.html
2 Siehe bereits Norbert F. Tofall: Schuldenverharmlosung als geopolitische Problem, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 30. Juni 2021, online: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/schuldenverharmlosung-als-geopolitisches-problem/
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