10.06.2024 - Kommentare
Die Bürger der Europäischen Union haben vom 6. bis 9. Juni 2024 ein neues Europaparlament gewählt. Insgesamt gingen rechtsgerichtete Parteien gestärkt aus der Wahl hervor. Es gibt jedoch keinen ausgeprägten Rechtsruck in allen EU-Staaten mit Ausnahme von Frankreich und Österreich. In den Niederlanden konnte die Freiheitspartei von Geert Wilders zwar erhebliche Gewinne verbuchen, ist aber nicht stärkste Kraft. Selbst in Italien gab es überwiegend nur Umschichtungen im rechten Lager. Und in Deutschland halten sich die Zugewinne für die AfD gerechnet auf Gesamtdeutschland in Grenzen, zumal die AfD vor einigen Monaten in den Umfragen deutlich über 20 Prozent lag.
Die jeweiligen Stärken der Fraktionen im Europäischen Parlament sind aber noch offen. Denn es ist noch ungeklärt, ob sich die gleichen nationalen Parteien in den gleichen Fraktionen wie 2019 zusammenschließen, ob einige ganz neue Fraktionen gebildet werden und ob einzelne nationale Parteien freiwillig fraktionslos sein wollen oder unfreiwillig aus Fraktionen ausgeschlossen bleiben.
Die AfD wurde kurz vor der Europawahl aus der Fraktion Identität und Demokratie ausgeschlossen, in welcher Marine Le Pens Partei RN Mitglied ist. Viktor Orbáns Partei Fidesz kam 2021 dem Ausschluß aus der EVP-Fraktion zuvor, will sich jetzt aber wohl der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer anschließen, in welcher die Brüder Italiens der italienischen Ministerpräsidentin Meloni Mitglied sind. Oder könnten sich nicht auch Le Pen, Meloni, Orban und die deutsche AfD sowie die italienische Lega und die FPÖ und andere zu einer einzigen, gemeinsamen Fraktion vereinigen, um konzentrierte politische Schlagkraft im Europäischen Parlament zu gewinnen? Oder teilt man sich besser geschickt auf zwei oder drei Fraktionen auf, um andere politische Kräfte und Positionen zu beeinflussen?
In der derzeitigen politischen Lage der EU scheint es nicht unwahrscheinlich zu sein, daß durch geschickte Fraktionsbildungen eine punktuelle Zusammenarbeit in Fragen der Migration oder der Klimapolitik zwischen rechtsgerichteten Parteien mit einzelnen pro-europäischen Parteien der Mitte ermöglicht werden könnte. Die Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen haben zwar auch im neuen Europäischen Parlament mit Abstand die Mehrheit, vertreten aber in Fragen der Migrations-, Klima- und Wirtschaftspolitik unterschiedliche Ansichten und Konzepte. Deshalb könnten insbesondere die Christdemokraten und Liberalen vornehmlich mit Meloni und vielleicht auch mit Le Pen in einzelnen Sachfragen zusammenarbeiten, wenn von vornherein geklärt ist, daß Rechtsextreme wie Maximilian Krah und seine AfD herausgehalten werden. Selbst eine um Maximilian Krah gesäuberte AfD dürfte für Meloni und vor allem für Marine Le Pen ein großes Risiko darstellen.
Marine Le Pen wird angesichts der kurzfristig vom französischen Präsidenten Macron angesetzten Neuwahlen des französischen Parlaments am 30. Juni 2024 und angesichts der nächsten Präsidentenwahlen in Frankreich 2027 alles vermeiden wollen, was Zweifel an ihrer Abgrenzung von rechtsextremen Positionen fördert und ihre derzeitigen Wahlerfolge gefährdet. Und Meloni, die fest an der Seite der Ukraine steht und die aus der Seidenstraßenvereinbarung mit China ausgetreten ist, dürfte sich in einer gemeinsamen Fraktion mit den Russland- und Chinafreunden AfD und Viktor Orbán kaum wohlfühlen.
Das heißt, ein Politikwechsel im Europäischen Parlament bei Fragen der Migrations-, Klima- und Wirtschaftspolitik ist dann am wahrscheinlichsten, wenn sich Meloni und Le Pen die Rechtsextremisten sowie die Russland- und Chinafreunde vom Halse halten. Das dürfte Meloni erheblich leichter fallen als Le Pen.
Um im 720 Abgeordnete zählenden Europäischen Parlament eine Fraktion bilden zu können, bedarf es mindestens 23 Abgeordnete, die aus mindestens einem Viertel der 27 EU-Staaten stammen müssen. Zwischen 2019 bis zur aktuellen Europawahl 2024 gab es 7 Fraktionen im Europäischen Parlament. Legt man diese Fraktionen zugrunde, dann ergibt sich aus den Wahlen vom 6. bis 9. Juni 2024 das folgende vorläufige Ergebnis:
Das Europäische Parlament ist das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union und wird alle fünf Jahre neugewählt. Es hat Gesetzgebungsfunktionen, Budgetierungsfunktionen, Kontrollfunktionen und Wahlfunktionen.
Die Gesetzgebungsfunktion teilt sich das Europäische Parlament mit dem Rat der Europäischen Union (Ministerrat). Das Europäische Parlament hat jedoch kein Initiativrecht für Gesetzesvorlagen. Dieses liegt bei der EU-Kommission. Das EU-Parlament kann die EU-Kommission jedoch nach Art. 225 AEUV auffordern, ihr Initiativrecht wahrzunehmen. Seit 2010 gilt dann die Vereinbarung, daß die EU-Kommission innerhalb von 12 Monaten einen Gesetzentwurf vorlegen oder innerhalb von drei Monaten begründen muß, warum sie keinen Gesetzentwurf vorlegen will.
Die von der EU-Kommission vorgelegten Richtlinien, Verordnungen und Entscheidungen werden in den meisten Politikfeldern gemäß Art. 294 AEUV sowohl vom Parlament als auch vom Rat der Europäischen Union in jeweils zwei Lesungen beraten, durch welche Änderungen in den von der Kommission vorgelegten Gesetzestext eingebracht werden können. Können sich Parlament und Rat nicht einigen, wird in dritter Lesung ein Vermittlungsausschuß einberufen.
Dieses ordentliche Gesetzgebungsverfahren gilt jedoch nicht für alle Politikbereiche. In der Wettbewerbspolitik muß das Europäische Parlament beispielsweise lediglich konsultiert werden. In der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik hat der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik das Parlament lediglich zu informieren und soll die Auffassungen des Parlaments gebührend berücksichtigen. In der Handelspolitik hat das Parlament jedoch das Recht, Änderungsvorschläge zu Gesetzentwürfen einzubringen und kann die entsprechenden Rechtsakte ablehnen.
Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union entscheiden auch gemeinsam über den EU-Haushalt (Budgetierungsfunktion). In den von der EU-Kommission vorgelegten Haushalt können Änderungen eingebracht werden. Bei Einigkeit zwischen Parlament und Rat tritt der Haushalt mit den beschlossenen Änderungen in Kraft. Bei Differenzen folgt ein komplexes Verfahren nach Art. 314 AEUV, in welchem auch ein Vermittlungsausschuß einberufen werden kann.
Die Kontrollfunktion des Europäischen Parlaments erstreckt sich sowohl auf die EU-Kommission als auch auf den Rat der Europäischen Union. Neben Anfragen, Untersuchungsausschüssen und Anhörungen kann das Europäische Parlament nach Art. 234 AEUV der EU-Kommission das Mißtrauen aussprechen. Dazu ist eine doppelte Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen sowie der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments notwendig. Die EU-Kommission muß bei einem erfolgreichen Mißtrauensantrag geschlossen zurücktreten.
Die Wahlfunktion des Europäischen Parlaments besteht darin, auf Vorschlag des Europäischen Rates (Rat der Staats- und Regierungschefs) den Präsidenten der EU-Kommission zu wählen. Ein eigenes Initiativrecht hat das Parlament dabei nicht. Auch muß die gesamte EU-Kommission vom Parlament bestätigt werden. Das Parlament kann jedoch nur die EU-Kommission als Ganzes bestätigen oder ablehnen. Es ist bereits mehrfach vorgekommen, daß das Parlament nach Anhörungen der vorgeschlagenen Kommissare einzelne Bewerber zum Rückzug zwang, indem die Ablehnung der gesamten Kommission angedroht worden ist.
Durch die Ergebnisse der Wahlen vom 6. bis 9. Juni 2024 zum neuen Europäischen Parlament dürften die Gesetzgebungs-, die Budgetierungs-, die Kontroll- und die Wahlfunktionen des Europäischen Parlaments nicht beeinträchtigt werden. Die pro-europäischen Parteien der Mitte haben eine klare Mehrheit. Sollten zudem Meloni und Le Pen bzw. ihre jeweiligen Parteifreunde im EU-Parlament die Rechtsextremen einerseits und die Russland- und Chinafreunde andererseits konsequent ausschließen und pragmatische Lösungen und Kompromisse der Fundamentalopposition vorziehen, dann werden auch neue Mehrheitsbildungen im Europäischen Parlament möglich, welche auch den Europäischen Rat zu Politikkorrekturen veranlassen oder zwingen könnte.
Unabhängig von dieser Möglichkeit, die momentan nur eine Möglichkeit ist, dürfte das Ergebnis der Europawahlen jedoch primär erhebliche Auswirkungen auf die Politik in einzelnen EU-Staaten haben. Die größten Auswirkungen zeigen sich bereits in Frankreich, wo Präsident Macron Neuwahlen für das Parlament am 30. Juni 2024 angesetzt hat. In Deutschland wurde die Ampel abgestraft. Und in Ungarn und Polen sind pro-europäische Kräfte im Aufwind. Insgesamt haben wir es mit einem sehr gemischten Ergebnis zu tun.
18.12.2023 - Wirtschaft & Politik
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