03.07.2024 - Kommentare

Der politische Handlungsspielraum der EZB ist beschränkt. Das spricht für mehr Inflation

von Gunther Schnabl


Die Wege der US-amerikanischen Zentralbank Fed und der Europäischen Zentralbank (EZB) haben sich getrennt. Während die Fed weiterhin ihre Bilanz verkürzt und Zinssenkungen bis auf Weiteres verschoben hat, hat die EZB die Leitzinsen wieder gesenkt, obwohl die Inflation im Euroraum und die Inflationsprognosen der EZB zuletzt wieder angestiegen sind. Der Abbau der Wertpapierbestände in der Bilanz der EZB geht nur zögerlich voran. Der Grund könnte sein, dass die Zinserhöhungen der EZB zwischen Juli 2022 und September 2023 den Handlungsspielraum der Regierungen und Unternehmen im Euroraum sowie der EZB selbst eingeschränkt haben. Das zeigt sich insbesondere in Deutschland.

Die Regierungen unter Kanzlerin Angela Merkel hatten noch durch die Zinssenkungen und sehr umfangreichen Staatsanleihekäufe der EZB in Folge der europäischen Finanz- und Schuldenkrise mächtig Rückenwind erhalten. Die EZB reduzierte nicht nur die Zinskosten des deutschen Staates. Sie belebte auch die Konjunktur und trieb so die Staatseinnahmen von 1.055 Milliarden Euro im Jahr 2008 auf 1.700 Milliarden im Jahr 2021 nach oben. Die Kanzlerin konnte sich dank der schnell wachsenden Finanzkraft ohne Mühe als geschickte Krisenlöserin präsentieren. Vielleicht hat sie deshalb die EZB-Präsidentin Christine Lagarde eine „liebe Freundin“ und eine „Inspiration“ genannt.

Die Ampel, die sich ab Dezember 2021 das Ziel setzte, den Ausbau des Sozialstaates und des Klimaschutzes weiter voranzutreiben, stieß hingegen schnell an Grenzen, da die EZB ab Juli 2022 die Zinsen stark angehoben hat. Die EZB bremste die Konjunktur und damit die Steuereinnahmen. Die Zinslasten der Staatsverschuldung sind angeschwollen, allein für den Bund von rund 4 Milliarden Euro 2021 auf 40 Milliarden 2023. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im November 2023 zur Schuldenbremse hat dem Versuch Grenzen gesetzt, mehr Staatsausgaben über den Umweg von versteckten Schulden zu finanzieren. Bundesfinanzminister Christian Lindner drängt seither seine ausgabenfreudigen Koalitionspartner zu unpopulären Einschnitten bei der Sozial- und Klimapolitik.

Auch die Unternehmen lebten viele Jahre im Schlaraffenland, da die EZB deren Kreditzinsen von durchschnittlich rund 5,5 Prozent Mitte 2008 auf 1,2 Prozent Ende 2021 gedrückt hat. Die EZB hat zudem großzügig die Anleihen von großen Unternehmen gekauft und über die Abwertung des Euros den Exportunternehmen Gewinne in die Kassen gespült. In der Coronakrise finanzierte das Pandemische Notfallankaufprogramm der EZB einen riesigen Wirtschaftsstabilisierungsfonds und reichlich Kurzarbeitergeld. Die Anzahl der Insolvenzen und der Arbeitslosen sank immer weiter, während die Erwerbstätigkeit steil stieg.

Doch nun sind die Kreditzinsen für Unternehmen steil angestiegen und die Kauflaune aufgrund stark gestiegener Preise gedämpft ist. Zwar fordern allen voran die großen Unternehmen nun laut mehr Subventionen. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft hat deren Umfang für das Jahr 2023 auf stolze 362 Milliarden Euro geschätzt. Doch den dafür notwendigen Schulden hat das Bundesverfassungsgericht einen Riegel vorgeschoben. So bleibt nur der Rotstift! Der Chemieriese BASF will bis 2026 jährlich 1,1 Milliarden Euro einsparen. Bosch plant, bis Ende 2027 nur bei Haushaltsgeräten weltweit weitere 3.500 Stellen zu streichen. Volkswagen will die Personalkosten in der Verwaltung bis 2026 um 20 Prozent senken. Die Liste der angekündigten Stellenstreichungen wächst. Die Anzahl der Insolvenzen steigt wieder.

Und auch das Eurosystem selbst – also die EZB und die dem Euro zugehörigen nationalen Zentralbanken – ist nicht von den Veränderungen verschont geblieben. Mario Draghi und Christine Lagarde hatten sich in Finanz-, Corona- und Klimakrise noch als Retter des Euros, des europäischen Finanzsystems, hilfloser Krisenstaaten, zahlreicher Arbeitsplätze bzw. des Klimas profiliert. Doch hat die seit 2021 deutlich sichtbare Inflation die Autorität der EZB als Hüterin der Preisstabilität erschüttert. Nun resultieren hohe Verluste, weil die EZB und die nationalen Euro-Zentralbanken seit 2012 in großem Umfang von den Geschäftsbanken u.a. niedrig verzinste Staatsanleihen gekauft haben. Da die Zentralbanken den Gegenwert dieser Käufe den Geschäftsbanken auf ihren Konten bei den Zentralbanken gutgeschrieben haben und die Banken für diese Einlagen Zinsen erhalten, sind mit den Leitzinserhöhungen die Zinslasten der Zentralbanken im Euroraum stark angeschwollen.

Die EZB hat 2023 bereit einen Verlust in Höhe von 1,3 Milliarden Euro gemacht. Der Verlust der Deutschen Bundesbank lag bei 21,6 Milliarden Euro. Damit am Ende im Ergebnis eine „rote Null“ stand, musste sie einen Großteil ihrer Rücklagen auflösen. Bereits seit 2020 weist die Deutsche Bundesbank keine Gewinne mehr aus (siehe Abbildung). Bald könnte es Verluste geben, sodass das Eigenkapital der Bundesbank, anderer Euro-Zentralbanken und der EZB selbst negativ werden könnte. Das führt zwar bei Zentralbanken nicht zum Bankrott, unterhöhlt aber das Vertrauen in die Währung.

Es wäre deshalb nicht überraschend, dass Regierungen, Unternehmen und sogar die Zentralbanken des Eurosystems selbst auf weitere geldpolitische Lockerungen hoffen. Doch eine daraus resultierende Verschnaufpause dürfte nur von kurzer Dauer sein. Denn das kurzfristige Zinsniveau liegt zwar deutlich höher als noch 2021. Die umfangreichen Wertpapierbestände, die das Eurosystem im Verlauf ihrer Eurokrisenpolitik in seiner Bilanz angehäuft hat, hat es jedoch kaum zurückgefahren. Im europäischen Bankensystem gibt es deshalb noch viel Überschussliquidität. Zudem sind die Lohnforderungen weiterhin hoch. Weitere geldpolitische Lockerungen könnten deshalb die Inflationserwartungen im Euroraum schnell wieder aufflackern lassen.

Das deutet auf ein Dilemma hin. Einerseits müsste die EZB ähnlich wie die Fed und die Bank von England die Zinsen weiter straff halten und die Bilanz weiter verkürzen, um dem anhaltenden Inflationsdruck entgegenzuwirken. Andererseits könnte ein anhaltend hohes Zinsniveau neue Risiken bei hochschuldeten Eurostaaten, Banken oder Immobilienunternehmen zu Tage befördern. Der politische Handlungsspielraum der EZB scheint sehr beschränkt. Das könnte für dauerhaft höhere Inflation sprechen.

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