16.09.2022 - Kommentare
Mit erheblicher Verspätung hat die Europäische Zentralbank begonnen, die ausufernde Inflation mit Zinserhöhungen zu bekämpfen. Die öffentliche Debatte dreht sich nun um die Auswirkungen höherer Zinsen auf Sparer und Unternehmen. Doch ist das nicht alles. Auch die Finanzen des Eurosystems, der EZB und nationalen Zentralbanken, werden unter den schon erfolgten und noch kommenden Zinserhöhungen leiden. Denn diese führen zu Bewertungsverlusten und höheren Zinsausgaben, durch die sich die früheren Gewinne des Eurosystems in Verluste verwandeln dürften. Es droht die (technische) Pleite.
Das Eurosystem hält gegenwärtig Anleihen im Wert von gut fünf Billionen Euro, die zum größten Teil durch die Schöpfung von Zentralbankgeld in ähnlicher Höhe bezahlt wurden.1 Die Absicht der Geldschöpfung war, die Inflation kontrolliert zu befeuern. Das ging gründlich schief. Die EZB verlor die Kontrolle und die Inflationsflammen schlagen im Euroraum so hoch wie noch nie. Zur Löschung sind nun Zinserhöhungen nötig - und die werden richtig teuer.
Bei einer durchschnittlichen Restlaufzeit der Anleihen von acht Jahren sinkt deren Kurswert um etwas weniger als acht Prozent, wenn der Marktzins um einen Prozentpunkt ansteigt.2 Daraus ergeben sich Bewertungsverluste von ungefähr 400 Milliarden Euro. Bei gleichem Anstieg des Einlagezinses der EZB würden Zinszahlungen auf die Zentralbankgeldeinlagen der Banken in Höhe von 47 Milliarden Euro fällig. Die Summe aus beiden Belastungen wäre beinahe zehnmal so hoch wie der Gewinn des Eurosystems im letzten Jahr und würde zwei Drittel der Rücklagen samt Eigenkapital aufzehren.
Vermutlich dürfte jedoch eine Zinserhöhung von einem Prozentpunkt nicht ausreichen, um den Inflationsbrand zu löschen. Aber schon bei einem Anstieg der durchschnittlichen Anleihezinsen und Einlagenzinsen um zwei Prozentpunkte wären die Bewertungsverluste und Zinszahlungen größer als die Rücklagen und das Eigenkapital des Eurosystems. Das Eurosystem sähe aus wie ein Hedgefonds, der sich mit einem kreditfinanzierten gigantischen Anleiheportfolio verzockt hat.
Im privaten Sektor würde ein insolventes Unternehmen abgewickelt und das Management, das den Bankrott zu verantworten hat, gefeuert. Sogar Politiker müssten die Abwahl befürchten, wenn sie die Staatsfinanzen in aller Öffentlichkeit ruiniert haben. Doch für das Eurosystem gilt das alles nicht. Anders als ein insolventer Hedgefonds kann die Zentralbank in der Pleite weiterleben. Denn sie kann es verstecken und muss nicht abgewickelt werden, wenn der Wert ihrer gesamten Anlagen unter den Wert der von ihr ausgegebenen Verpflichtungen fällt.
In ihren (2016 aufgestellten und 2021 erneuerten) „Bewertungsvorschriften“ erläutert die EZB ihre Bewertungsmethode für die Bilanzierung: „Sofern nicht abweichend in Anhang I geregelt, werden aktuelle Marktkurse und -preise zur Bewertung in der Bilanz herangezogen“ (Artikel 9, Absatz 1).3 Das gilt im Allgemeinen für Wertpapiere, die nicht ausdrücklich bis zur Endfälligkeit gehalten werden. Da die Haltedauer von „für geldpolitische Zwecke gehaltenen Wertpapieren“ vom geldpolitischen Zweck abhängt – also kürzer sein kann als bis zur Endfälligkeit - müssten diese Wertpapier eigentlich zur Klasse der mit Marktpreisen zu bewertenden Anlagen gehören.
Doch für diese Papiere, die den größten Aktivposten in der Bilanz des Eurosystems ausmachen, hält die EZB eine Ausnahmeregelung parat. In Artikel 9, Absatz 6 der Bewertungsvorschriften heißt es: „Zu geldpolitischen Zwecken gehaltene marktgängige Wertpapiere werden als gesonderter Bestand behandelt und in Abhängigkeit von geldpolitischen Überlegungen entweder mit dem Marktpreis oder zu fortgeführten Anschaffungskosten (die Wertminderungen unterliegen) bewertet.“
Wenn es die EZB mit der Inflationsbekämpfung ernst meint, kann sie dafür nicht nur auf Leitzinserhöhungen setzen, sondern müsste auch „zu geldpolitischen Zwecken gehaltene Wertpapiere“ verkaufen. Diese Papiere hat sie zur Stimulierung der Inflation gekauft. Es würde jeder Logik widersprechen, diese Papiere zur Löschung der Inflation nun nicht zu verkaufen. Wenn sie aber zum Verkauf stehen, müssten sie zu Markpreisen bilanziert werden.
Die EZB legt ihre Bewertungsvorschriften selbst fest und kann sie nach Belieben interpretieren. Folglich ist zu vermuten, dass sie Wege finden wird, den Verlust von Rücklagen und Eigenkapital durch Abschreibungen auf ihre Anleihen zu verschleiern. Werden die Verkäufe dann über lange Zeit verteilt – oder die Papiere trotz Inflation bis zur Endfälligkeit gehalten -, können die realisierten Verluste so gestreckt werden, dass sie der Öffentlichkeit weniger auffallen. Zwar würde dadurch der Kampf gegen die Inflation geschwächt, aber die EZB-Führung könnte ihr Gesicht wahren.
Ohnehin hat sie Kritik an ihrer Leistung wenig zu fürchten, da sie diese als verbotene politische Einmischung in ihre Geldpolitik abwehren kann. EZB-Präsidentin Lagarde und ihre Kollegen müssen auch nicht um ihre Jahresgehälter von 300.000 bis 400.000 Euro fürchten, wenn sie der Inflation freien Lauf gelassen und das Eurosystem ruiniert haben. Nach Ablauf ihrer Amtszeiten winken ihnen neben großzügigen Pensionen gut dotierte Positionen in der Finanzindustrie. Weniger Übernahme von Verantwortung als im Bereich der Geldpolitik gibt es sonst wohl nirgends.
Die Fehler der EZB-Granden müssen am Ende die Bürger ausbaden. Die Kaufkraft ihrer Einkünfte und Geldersparnisse schmelzen wie Schnee an der Sonne und die Verluste des Eurosystems aus den Wertpapierkäufen mindern die Staatseinnahmen. Doch die Bürger bleiben wehr- und hilflos, solange sie nicht verstehen, was Politiker und Bürokraten mit ihrem Geld anstellen.
1 https://sdw.ecb.europa.eu/servlet/desis?node=1000004045.
2 Zu den Laufzeiten der Anleihen in den Programmen PSPP und PEPP siehe https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/app/html/index.en.html#pspp und https://www.ecb.europa.eu/mopo/implement/pepp/html/index.en.html.
3 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:02016D0035(01)-20211231&from=DE.
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